Leben macht Sinn
persönliche Fragen: Warum trifft es mich? Warum gerade jetzt? Was soll das bedeuten? Dieser Zustand von Trübsinn, Hoffnungslosigkeit, Lethargie und unspezifischer Traurigkeit, den man früher Melancholie nannte, wird heute offiziell Depression genannt. Das klingt ernst, psychologisch und wird allgemein akzeptiert als Entschuldigung, ähnlich wie ein gebrochenes Bein, wenn man keinen Sinn mehr darin sieht, das zu tun, was man tun sollte. Im Gegensatz zur Trauer gilt sie heutzutage als anerkannte Krankheit, die am besten mit Medikamenten, Lauftraining und Psychotherapie behandelt wird. Sie kennt verschiedene Ausmaße – kurz, mittel, lang –, und wen sie öfters heimgesucht hat, der weiß: Sie bleibt nicht ewig.
Man kann sich phasenweise von solch schwarzen Gefühlen ablenken, sie mit zwei Gläsern Wein vor dem Schlafengehen ertränken, sie wie eine Grippe ausliegen und pflegen, oder man kann sie wegschlafen, aussitzen, oder nach Entsprechungen Ausschau halten, wie beispielsweise das schlechte Wetter, die Übellaune des Partners, die schlampigen Umgangsformen von Freunden. Manchmal spürt man diesen Zustand schon kommen, und kann noch rechtzeitig entwischen, bevor es einen erwischt hat. Für den einen ist es ein neues Projekt, das die ganze Kraft beansprucht, eine neue Liebesbeziehung oder eine berufliche Veränderung. Und manchmal hilft es, wennman sich einer nahen Person anvertraut, oder ganz einfach ein bisschen liebevoller für sich selbst sorgt.
Trauer ist raffinierter. Vergleicht man die Depression mit einer klatschnassen Decke, die sich schwer über die Tage legt, so spielt die Trauer eher Katz und Maus mit einem. Sie versteckt sich. Während wir auf dem geliebten Waldweg spazieren gehen oder auf einem Fest mit anderen scherzen und plaudern, überfällt sie einen plötzlich, weil man gerade ein vertrautes Lied vernimmt, oder ein bestimmter Geruch Erinnerungen nach oben schwemmt. Es ist kaum möglich, Trauer zu bekämpfen oder zu verbannen. Sie schleicht sich durch die Ritzen in die Sonntagsruhe, in das Lesen und in die Träume, aus denen man tränennass aufwacht.
Wurde uns nicht beigebracht, dass es im Leben immer weiter und aufwärts geht, dass es immer vorwärts schreitet, und dass immer Neues zum Alten hinzukommt? Neue Freunde, neue Liebhaber, aufregende Interessen, neue Kleider, neue Reisen, überraschende Begegnungen. Und immer dann, wenn wir wieder einmal etwas Liebgewonnenes verloren haben, erinnern wir uns daran, wie viele Verluste wir schon hinnehmen und verkraften mussten. Unsere Räume füllen sich immer mehr mit Abwesenden, Verlorengegangenem, Vergeblichem. Der Garten, in dem wir Maikäfer eingefangen haben, der Teich, in dem wir Kaulquappen in Gläser eingesammelt haben, der Speicher, auf dem wir in alte Klamotten geschlüpft sind, der Liebhaber, der mit uns bis ans Ende der Welt reisen wollte, die Freundin, mit der wir bis zum Lebensende zusammen bleiben wollten, der Freund, der nie mehr von sich hören ließ und all die anderen, die sang- und klanglos verschwunden sind.
Und die Eltern, die sterben oder sich zurückziehen in die Dämmerung des Altwerdens und das Interesse anihren erwachsenen Kindern verlieren. Eltern, die am liebsten über ihre Krankheiten sprechen. Plötzlich fühlt man sich so merkwürdig allein, weil man realisiert, dass die eigene Mutter kaum mehr beeindruckt ist, wenn man sich scheiden lässt, den Arbeitsplatz verliert oder von einer neuen Liebe aus den Angeln gehoben wird. »Ich bin weniger interessant als ihr pünktliches Abendessen«, so der Kommentar einer Tochter.
Genug Gründe für Gefühle der Sinnlosigkeit. Auch wenn grelle Schmerzen sich mit der Zeit mildern, auch wenn man sich über die Jahre allmählich mit Verlusten vertraut gemacht hat, oder zumindest sich daran gewöhnt hat, dass Verluste auch einen selbst treffen, so verlieren wir nie restlos die Stimme dieses vierjährigen Kindes in uns, das aber auch gar nichts und niemanden verlieren will.
Trauer kommt und geht, flackernd wie ein Feuer, das immer wieder aufflammt. Man kann lernen mit ihr umzugehen, sich zu verabschieden. Man kann kleine Schritte unternehmen, um sich dem Leben wieder zuzuwenden. Man kann auf andere zugehen, deutliche Signale geben, dass man Unterstützung und Trost braucht. Depression ist anders, weil sie sich wie ein schlechter Geschmack über die Tage legt – wie ein verdorbener Fisch im Küchenschrank – und den Geschmack am Leben verdirbt. Wozu noch die Kleider aufräumen,
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