Leben macht Sinn
Einladungen annehmen, Anrufe beantworten, was Leckeres kochen, die Wohnung putzen? Stattdessen häuft sich das Liegengelassene – die unbeantworteten Briefe, die eingeweichte Wäsche, die verlegten Gegenstände und die ungelesenen Zeitungen. Vitale Unordnungen sehen anders aus, da gibt es Bücher aus der Bibliothek, ausgeschnittene Zeitungsartikel, diverse Kleider und ein paar Kochrezepte für den Besucham Wochenende. Depressive Unordnungen folgen der Schwerkraft, die abgelegte Wäsche, die am Boden liegt, stehen gelassener Tee, Fertigpizza und Verlegtes auf dem Boden, weil es zu mühsam ist, sich zu bücken.
Wenn es reale Gründe gibt für solche »Sinnlosigkeitsabstürze«, wie beispielsweise mehrere Tage mieses Wetter, Weihnachten allein, ein verpasstes Treffen oder eine abservierte Liebschaft, dann kann man sie irgendwie hinter sich bringen, sie »aussitzen« und darauf vertrauen, dass sie vorbeiziehen. Aber wenn der ersehnte Rückruf vom Liebhaber nach drei Tagen nicht kommt, dann gehört das eher in die Kategorie Leben.
Am meisten leidet man wohl, wenn man sich allein gelassen fühlt, wenn sich niemand mehr für einen interessiert, geschweige denn Mitgefühl aufbringt für das, was einen bewegt. Aber schlimmer noch als die mangelnde Beachtung von anderen ist der Mangel an Zuwendung, die wir anderen geben können. Nicht gemocht, übersehen oder verletzt werden ist schlimm; niemanden zu haben, den wir mögen oder lieben dürfen, ist noch schlimmer. Stellen Sie sich vor, es geschähe eine Katastrophe und Sie würden allein übrig bleiben. Es gäbe niemanden mehr, den Sie lieb haben könnten. Welch grausamer Gedanke! Gerade deswegen legen sich vereinsamte Menschen gern einen Hund oder eine Katze zu. So finden sie ein Gegenüber, mit dem sie sprechen, das sie streicheln, umsorgen und lieb haben können. Ob Haustier, Kind oder Freund, jemanden zu haben, dem man Beachtung schenken kann, ist eine der wertvollsten Möglichkeiten, auch sich selbst etwas Liebevolles zu geben. Sich mit anderen auszutauschen, um sie zu sorgen, ist nicht nur ein Ausweg aus der eigenen Begrenztheit, sondern das beste Mittel gegen sinnlose Einsamkeit.
Wir sind von Natur aus gesellige Wesen und angewiesen darauf, dass wir Gefühle mit anderen teilen. Bleiben wir nur in der eigenen kleinen Welt gefangen, fehlen uns die Vergleichs- und Korrekturmöglichkeiten mit den Gefühlswelten anderer. Die Folge ist: wir deuten die Reaktionen und Empfindungen anderer, wie auch unsere eigenen, verzerrt und falsch, weil wir »Nichtschwimmer« im Umgang mit anderen und daher auch mit uns selbst geworden sind.
Mit anderen teilen und für sie zu sorgen ist der Königsweg zum Eigensinn. Schon im kleinen Maßstab leuchtet das ein. Wenn wir jemandem etwas schenken und sehen, wie der andere sich freut, wirkt diese Freude automatisch auf uns selbst zurück.
Wie schützt man sich vor Sinnlosigkeitsgefühlen? Man interessiert sich für andere, hört ihnen zu, baut sie auf, auch wenn man es selbst nötig hätte, wartet nicht bis Weihnachten, bevor man etwas verschenkt, macht anderen das Leben ein bisschen leichter und verwöhnt sie hin und wieder. Das verschafft nicht nur anderen gute Laune, sondern auch einem selbst. Meist sind es ziemlich schlichte Erfahrungen, die uns dem Leben wieder zurückgeben: die Freude am gemeinsamen Glas Wein, die Hilfe beim Computerabsturz, das gemeinsame Schwimmen gehen, nebeneinander im Gras liegen, blödeln, oder ein Zettel mit einer Liebesbotschaft.
Sinnräuber
Sinn unter den Schichten von Erwartungen, Pflichten, Notwendigkeiten zu finden, ist keine einfache Aufgabe. Zuviel zerrt an uns: Zerstreuungen, das Spiel der Oberflächen und der hohe Preis, den viele freiwillig entrichten, um ständig erreichbar und verfügbar zu sein. Allein schon die Forderung, immer im Stand-by-Modus zu sein. Sein ohne Handy ist ja fast unmoralisch geworden – wer will denn schon von gestern sein? Hauptsache »es läuft« irgendwie. Natürlich gehört eine gewisse Selbstverständlichkeit streckenweise zur Lebensbewältigung. Wer ständig in sich hineinhorcht, jede Gefühlswallung hinterfragt, kommt einfach nicht richtig in die Puschen und verpasst wie ein Musiker seinen Einsatz. Eingeschliffene Lebensläufe, einengende Verpflichtungen, strikte Tagespläne bieten zwar Halt und Berechenbarkeit, aber wenn die Magnetnadel sich ständig in der gleichen Rille bewegt, verschwinden allmählich die Reibungsflächen. Man erstarrt in Routine und Sinnmangel, der
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