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Leben macht Sinn

Leben macht Sinn

Titel: Leben macht Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irmtraud Tarr
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mit diesen Zweifeln nicht allein ließen? Denn totzukriegen sind diese Fragen ohnehin nicht, im Gegenteil: Sie führen uns genau an die Stellen, wo wir einen Blick auf neue, andere Optionen gewinnen. Und wenn die Perspektive nur darin besteht, dass ein anderer kommt und sagt: »Ich bin in deiner Nähe – wenn du reden willst.«

Selbst erkennen
    »Wenn ich im Zug aus dem Fenster schaue und plötzlich bemerke, dass mir jemand gegenüber sitzt, der meinen Blick erwidert, und wir beide plötzlich lächeln – hat das einen Sinn?« »Haben die prächtigen Kastanienbäume, die vorbeihuschenden Fledermäuse, der erste Bärlauch, die knospenden Rosen einen Sinn?« »Hat es einen Sinn, wenn ich meiner Oma schreibe?« »Hat es seinen Sinn, wenn ich ihm weiter hinterherlaufe?« Sinn – dieses einsilbige Schlüsselwort hat eine unendliche Spannweite. Banales, Harmloses, Weichenstellendes, Existenzentscheidendes versammeln sich unter dem Dach dieser vier Buchstaben. Fragen über Fragen, die man schlicht mit Ja und Nein beantworten könnte. Ja, alles hat einen Sinn, man muss nur sorgfältig danach suchen. Nein, nichts hat einen Sinn. Alles muss erst einen Sinn erhalten: von uns, die wir den Dingen und Erfahrungen Sinn geben.
    Letztlich können wir keinen Schritt tun, ohne zu wissen, warum. Man braucht bloß einen Passanten auf der Straße zu beobachten, wie er plötzlich stehenbleibt, weil er seinen Beweggrund vergessen hat. Sobald er sich wieder orientiert, kann er weitergehen.
    Ein Grund, weshalb sich eine Festlegung von Sinn verbietet, ist die Subjektivität von Sinn. Der Sinnsucher hat seine Antwort, seinen Weg zu finden, weil es letztlich um die Frage geht: »Wie will ich leben?« Das gilt für harmlose Handlungen – »Soll ich das Auto oder lieber den Zug nehmen?« – genauso wie für entscheidende Planungen – »Soll ich heiraten oder lieber allein leben?« In all diesen Sinnprozessen beginnen wir mit dem Wahrnehmen. Ich nehme etwas für wahr, und es wird für mich wahr. Im Gegensatz zur Falschheit, die etwas für falsch hält. Ich sehe die Welt auf meine Weise, deute sie und tausche mich darüber aus.
    Ein ganzes Sinngefüge begleitet uns von klein auf, auch wenn wir es oft nicht wahrnehmen, weil vieles unterhalb der Bewusstseinsschwelle nistet. Denn unsere Wahrnehmung ist nicht voraussetzungslos. Was wir wahrnehmen, definiert auch die Kultur, in die wir hineingeboren wurden. Sinn ist demnach nicht nur von uns »gemacht«, sondern ist in einen größeren Zusammenhang eingebettet. Oder wie Antoine de Saint-Exupéry fortführt: »Die Bedeutung der Dinge liegt nicht in den Dingen selbst, sondern in unseren Haltungen zu ihnen.« Haltungen haben Konsequenzen. Sie bestimmen, was wir tun, ob und in wen wir uns verlieben, was wir zum Frühstück essen, welche Bücher wir lesen, welchen Kandidaten wir wählen, wem wir unser Vertrauen schenken. Selbst angesichts von Terror und Grausamkeit bleibt uns immer die Haltung, die wir dem Irrsinn gegenüber einnehmen, so dass das Böse wie ein Schneeball abprallt an den Fenstern unserer Werte.
    Sinnerwartung prägt und lenkt unser Wahrnehmen und Handeln; da wir sie oft nicht wahrnehmen, unterschätzen wir ihre Bedeutung. Erst in Krisenzeiten wird uns oft wieder bewusst, wie unsere Prägungen definieren, was wir mit »Glück«, »Liebe« oder »Schicksal« beschreiben. UnsereSchöpferkraft zeigt sich nun darin, dass wir Sinn mit unserer Wahrnehmung und unserem Verstehen tätig und denkend erschaffen. In seelischen Krisen ist diese Fähigkeit besonders angefragt, denn das sind Zeiten, in denen wir auf uns selbst gestoßen sind. Hier kann der Blick in die eigene Geschichte Sinnhorizonte eröffnen: Was hat mich geprägt? Welche Werte sind mir wichtig? Wie sorge ich für mich selbst? Wie gehe ich mit anderen um? Für welche Haltungen und Überzeugungen stehe ich ein? Es lohnt sich hinzuschauen, welchen Sinnen man sich verschrieben hat, sie auf ihre Stimmigkeit hin zu überprüfen und nötigenfalls zu korrigieren oder zu verabschieden. Wir haben tatsächlich die Fähigkeit, eine innere Distanz zu unseren Gedanken, Gefühlen und Wünschen einzunehmen, sie kritisch zu befragen und zu bewerten. Nichts anderes meint schließlich der Begriff »Selbsterkenntnis«.
    Wenn wir wissen wollen, was wir wirklich brauchen, dann ist es manchmal nötig, uns selbst wie einem Fremden zu begegnen und unser Tun von außerhalb zu betrachten. Aus dieser exzentrischen Sicht wird uns dann vielleicht klar, dass wir

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