Leben macht Sinn
ergänzt das gewöhnliche Wahrnehmen der Welt, vertieft es und macht es wesentlicher, weil es das Erleben der Welt näher mit dem Erleben des eigenen Seinszusammenführt. Und hier liegt auch das Besondere dieses Verstehens. Wer seine inneren Bewegungen zu verstehen versucht, gewinnt innere Orientierung, wird mutiger, kann sich besser abgrenzen und auch gegen den Strom schwimmen, wenn es sein muss. Wer Orientierung hat, kann auch Orientierung geben, oder allenfalls nach ihr fragen.
Die innere Perspektive öffnet sich, wenn wir die Fundgrube unserer Träume, Wünsche und Sehnsüchte als Schatz erkennen, den wir heben können, um mehr über uns selbst zu erfahren. Wird da ein Wunsch sichtbar? Verspüren wir eine Sehnsucht? Kommt eine Erinnerung? Eine Traurigkeit? Ein kleines Glücksgefühl? Das sind Fragen, die zum Eigensinn führen. Sie werden uns nicht um unseren Verstand bringen, sondern zu uns selbst zurück. Deshalb mein Motto: Zeige mir, wie selbstbestimmt du lebst, und ich sage dir, ob deine Wege zur Sinnerfahrung kurz oder lang sind.
Rendezvous mit sich selbst
Kein Mensch schuldet dem anderen ein sinnvolles Leben. Damit muss man erst einmal fertig werden. Manchmal braucht man lange, um das zu begreifen. Aber eigentlich bedeutet es nur, dass niemand anders da ist, der einem diese Aufgabe abnimmt. Es bleibt einem nichts anderes, als sie selbst in die Hand zu nehmen. Dazu gehört ein bisschen Askese – sprich, die Lust, sich selbst Raum für Eigensinn zu schenken. Wie geht das? Meine Antwort lautet, indem man sich ein Stück Eigenwelt organisiert. Es beginnt mit einer Verzichtleistung, denn wenn wir darauf verzichten, von anderen zu erwarten und zu fordern, öffnen sich neue Räume. Alleinsein gewinnt eine neue Qualität. Natürlich meine ich das absichtsvolle, freiwillig gewählte. Allein schon der äußere Entzug von alltäglichen Erwartungen und Ansprüchen und der Kulissenwechsel setzen ein Zeichen: »Jetzt tue ich etwas für mich!« Francesco Petrarca, der einsame Bergsteiger und Philosoph, formulierte diesen Gedanken schon vor 650 Jahren: »Kehre bei dir selbst ein, wache bei dir; sprich mit dir, schweige mit dir; zögere nicht, mit dir allein zu sein. Denn bist du nicht bei dir, dann wirst du auch unter Menschenallein sein.« Wenn wir es nicht aushalten, bei uns selbst zu sein, wie können wir von anderen erwarten, dass sie gern bei uns sind?
Gewiss steht das Alleinsein noch für etwas anderes: für Selbstbestimmung. Ein Leben, in dem es gelingt, so zu sein, wie man wirklich ist, zu fühlen, was man fühlt. Ein Ort ohne Bewertung von außen, ohne verordnete Gefühle, ohne Bevormundung oder Beherrschung durch Gefährten. Allein sind wir nie ganz allein, wir sind immer mit jemandem: mit uns selbst. Die Frage ist nur, wie? »Ich habe einfach nicht so edle Gedanken wie diese großen Schriftsteller, bei mir geht es um ›spazieren gehen, oder nicht‹, ›Sandwich auswärts oder lieber im Zimmer essen‹, ›Wäsche heute oder lieber morgen waschen‹ – nicht gerade sehr inspirierend, oder?« So die Beschreibung einer Frau, die ein schlechtes Gewissen hatte, weil sie dem Alleinsein nur wenig abgewinnen konnte. Für manche mag das Alleinsein ungewohnt sein, weil es mit Geborgenheitsverlust einhergeht. Deswegen stürzen sie erst einmal in eine Leere, die schwer auszuhalten ist. Auch wenn diese Erweiterung des Selbstbildes um düstere Dimensionen erst einmal schmerzt, so öffnen sie dennoch neue Türen, aber eben nicht nur pflegeleichte Türen, denn Alleinsein bringt Wahrheit ans Licht. Man erfährt, was man an sich selbst hat. Vielleicht fällt man vom hohen Ross und stößt mit der Nase auf verdrängte, oft über Jahre ignorierte Seelenwinkel. Das Versäumte meldet sich womöglich als depressiver Einbruch, oder man entdeckt, dass alte Sinngebungen in Beziehungen, Beruf oder Ehrenämtern nicht mehr tragen. Oder man gerät in ein schwarzes Loch und phantasiert, dass die Freunde ausbleiben werden. Das vertraute Selbstbild schrumpft, wenn keiner mehr fragt: »Wann gibt es Abendessen?«, »Wo sind meine Schlüssel?«, die Händesind plötzlich leer, weil niemand mehr da ist, der sagt: »Kannst du mal? Gib mir mal! Hilf mir mal! Reich mir mal!« Es gilt, sich die Leere anzuschauen und vor allem die Geduld und den Mut aufzubringen, eine Phase ohne Sicherheiten auszuhalten. Denn das Faszinierende am Alleinsein ist dieses Zusammentreffen der Gegensätze: Dort wo der Raum eng ist, öffnet sich der Blick für neue,
Weitere Kostenlose Bücher