Leben macht Sinn
eigentlich mehr gelebt werden, als selbst leben; dass wir mehr Zeit für uns selbst bräuchten, als wir uns zugestehen; dass wir viel fauler sein wollen, als wir es uns gestatten; oder immer noch am gleichen Ort leben, obwohl wir innerlich schon ausgewandert sind.
Obwohl wir uns selbst am besten kennen sollten, zumal wir die meiste Zeit mit uns selbst verbringen, bleibt doch ein Rest, unsere sogenannten blinden Flecken oder Selbsttäuschungen, die sich der Selbsterkenntnis entziehen. Das hat mit unseren Selbstbildern zu tun, die die Tendenz haben, eine Eigendynamik zu entwickeln, die verstärkt und gestützt wird durch Vorbilder, Erfahrungen, eigene Wunschvorstellungen und Vergleiche mit anderen. Meist sind wiruns dessen nicht bewusst, wie wir in unseren Selbstbildern gefangen sind, oder wir sind nicht in der Lage, sie zu relativieren und uns aus ihren Zwängen zu befreien.
Hier sind wir angewiesen auf den Blick der anderen: »Ich sage dir, was du nicht siehst«, der uns ungeheuchelt zeigt, was uns entgeht, der uns korrigiert, wenn wir inkongruent sind, der uns auf Widersprüche und Ungereimtheiten hinweist, oder aufdeckt, dass unsere Schokoladenseite nicht so süß ist, wie es uns lieb wäre. Ohne die Hilfe der anderen gelingt es nicht, unsere Selbstbilder zu überprüfen. Dazu meint der Schriftsteller und Philosoph Peter Bieri: »Eine Selbsttäuschung ist ein interessegeleiteter Irrtum über uns selbst: Wir möchten einfach gerne einer sein, der so denkt und fühlt – und dann portraitieren wir uns auch so … Dabei lügen wir oft nicht nur vor den Anderen, sondern auch vor uns selbst, und wir leisten erbitterten Widerstand, wenn uns ein Anderer zu ertappen droht.«
Warum ist Selbsterkenntnis ein solch kostbares Gut? Weil sie etwas mit sich führt, das unersetzlich ist: Selbstvergewisserung. Sich selbst mit sich auszukennen und besser zu verstehen, statt im Nebel scheinbar selbstwertdienlicher Täuschungen zu leben, ist nichts anderes als Sinn – Sinn für ein vorher in Selbsttäuschungen gefangenes Ich. Daher könnte man sagen, dass in jeder Selbstverständigung die Chance für neuen Sinn liegt. Die Begegnungen mit sich und den anderen werden lebendiger, wacher, eigensinniger. Das ist vielleicht das Geheimnis von Menschen, denen wir gern zuhören. Sie lassen sich berühren, inspirieren, wandeln, weil sie mit sich selbst in Kontakt sind. Sie sind lebendiger als andere. Ich möchte am liebsten sagen: wirklicher.
Kurzum: Selbsterkenntnis heißt erfahren, wie ich eigentlich bin. Selbsterkenntnis liefert Sinngewissheit.
Selbst entscheiden
Wir wollen selbst entscheiden, was wir zu denken, zu tun und zu sagen haben. Diesem Satz wird wahrscheinlich kaum jemand widersprechen, weil er von unserem Eigensinn und unserem Sinnhunger handelt. Gern denke ich an diese alte Dame, die im hohen Alter noch Italienisch lernen wollte. Die besorgten Einwände ihrer Kinder und Enkelkinder konterte sie mit Schlagfertigkeit: »Ihr habt sicher recht, aber ich will mir selbst mein Urteil bilden.« Wer mag es schon, dass man ihn bevormundet, ihn belehrt und ihm vorschreibt, was er zu tun oder zu lassen hat? Aber jeder Mensch hat andere Fesseln. Manche sind offensichtlich, andere unsichtbar. Manche suchen Therapie, um sich von ihnen zu befreien, und viele machen andere dafür verantwortlich. Es sind vor allem die unausgesprochenen Erwartungen, die nicht nur die anderen, sondern auch wir selbst an uns richten, die zu Sinnräubern werden. Einer davon ist das bekannte: »Ich muss«. Meist haben wir es schon früh in der Kindheit zu oft als »Du musst« gehört und gelernt, dass unsere eigenen Bedürfnisse, Wünsche und Träume weniger wichtig waren als die der Älteren. In mühevoller Kleinarbeit gelingt es manchen,dieses »Ich muss« durch ein selbstverantwortliches »Ich werde« zu ersetzen. Statt äußerem Zwang hin zur selbst gewählten Aufgabe. Oder wie Leo Tolstoi sagte: »… dass du immer willst, was du tust«.
Nun werden manche einwenden, man könne doch nicht immer das tun, was man gerade will. Natürlich geht es nicht darum, andere vor den Kopf zu stoßen oder sich innerlich zu panzern, sondern bei sich selbst zu sein und sich das zu eigen zu machen, was man von sich aus möchte. Denn das Gefühl der Sinnlosigkeit entsteht, wenn wir zu oft oder gar gewohnheitsmäßig das tun, was andere von uns erwarten und dabei den Kontakt zu uns selbst verlieren.
»Niemals lernst du etwas von dem Satz, den du von außen bekommst, du lernst
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