Leben macht Sinn
Leute, die eingesehen haben: Was man an Zeit gewinnt, geht an Bewusstheit verloren. Um das nachzuvollziehen, brauchen Sie nur Ihr Navigationsgerät einzuschalten und durch irgendeine Stadt zu fahren. Statt die verschiedenen Straßen und Viertel wahrzunehmen, schaut man – wie abends auf den großen Bildschirm – nun auf den kleinen Bildschirm und erlebt nichts mehr.
Tai Chi, Qi Gong, Meditation sind letztlich alles Methoden, die uns zur bewussten Wahrnehmung führen, zu dem, was es heißt zu leben, statt gelebt zu werden. Selbst wenn wir keinen Zugang zu diesen Übungen haben, sind wir doch frei, auf einer Bank zu sitzen, den Vögeln zuzuschauen oder das Glitzern eines Bächleins einfach einmal wahrzunehmen. Mittlerweile hat es sich herumgesprochen, dass die Übung in Achtsamkeit und Konzentration die Intensität von Wahrnehmungen fördert. Die Slow-Food-Bewegung ist ein Beispiel dafür. Da lernenMenschen wieder zu schmecken, zu kauen, zu berühren, weil die Sinne und damit Sinn wahrgenommen wird, wenn wir ganz und gar »gegenwärtig« sind.
»Wenn ich sitze, dann sitze ich«, so sagen die Zenmeister. Also nicht gleich ans Aufstehen denken, sondern die Unruhe erkennen, loslassen und durch Achtsamkeit ersetzen. Es geht auch ohne Teerituale und Rieselmusik.
Wer bei einer Sache bleibt, ist nicht reizhungrig und verführbar. Wer im gegenwärtigen Augenblick verweilen kann, spürt sich selbst intensiver. Er bekommt dieses einzigartige, große Gefühl: Ich lebe. Es hat mit Bewusstsein zu tun, dass man das schätzt, was man gerade tut. Über das Wahrnehmen kann Genuss überhaupt nur entstehen. In dem Wort Wahrnehmung stecken die Wörter »wahr« und »nehmen« zugleich. Das bedeutet, das Wahre und nicht das Falsche nehmen. Sich auf eigene Gedanken einlassen und nicht nehmen, was einem vorgesetzt wird, sondern was einem selbst entspricht.
So kommen wir der eigenen Wahrheit näher. Lernen uns kennen und vor allem eines: genießen. Genuss wird häufig mit »teuer« assoziiert. Das ist ein Irrtum. Es hat vielmehr mit Bewusstheit zu tun. Um wahrzunehmen, wie einfach Genuss sein kann, denken Sie an einen Teller Spaghetti aglio olio e peperoncini, der schlägt jedes Fünf-Sterne-Gericht. Dieses schlichte Gericht, das selbst der Ungeübte kochen kann, macht »sinnesfroh«, wie es unser schönes deutsches Wort sagt, gerade weil es so einfach ist und nicht mehr sein will, als es ist.
Sinnlichkeit hat viel mit Sinn zu tun. Man darf das nicht einfach vom Tisch fegen. Die Wahrnehmung über die Sinne, wie man ein Essen sinnlich zubereitet, schmeckt, mit welcher Farbenfreude man es serviert, all das entscheidet über unsere Art des Daseins.
Wer sein Leben über die Sinne ertastet, wird resistent gegen die Gier nach ständig neuen Reizen. Man lernt das wirklich auszukosten, was der Augenblick freigibt. Das ist eine Menge Sinn! Zumindest erfasst es eine wesentliche Bedingung von Sinn. Sind Kinder nicht deswegen glücklicher, weil sie im Augenblick leben und noch mit frischen Sinnen wahr-nehmen?
Da sein, um da zu sein
»Du bist da, um da zu sein«, so antwortet der schwere Steinbrocken in dem Bilderbuch von Wolf Erlbruch auf die Frage: »Wozu bist du auf der Welt?« Der Vogel zwitschert: »Um dein Lied zu singen bist du da!« und die Ente watschelt unbeirrt weiter: »Keine Ahnung!« Keiner in diesem Buch kommt um die Frage herum, genauso wie wir. Es gibt einen, der die Diskrepanz zwischen dem Allumfassenden und den banalen Nöten von uns endlichen Sinnsuchern auf den Punkt bringt: »Die Zukunft hält große Chancen bereit, aber auch Fallstricke. Der Trick wird sein, den Fallstricken zu entgehen, die Chancen zu ergreifen und um sechs Uhr wieder zuhause zu sein.« Dieser Trick stammt unverkennbar von Woody Allen. Mir fällt Ähnliches ein: »Wer sind wir? Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Wann gibt es Abendessen?« Bei einer so großen Frage, wie jener nach dem Sinn, mutet es vielleicht merkwürdig an, wie nahe das Allzumenschliche liegt. Das hat vielleicht damit zu tun, dass in der Sinnfrage immer auch die Frage nach dem Sinn des Todes mitschwingt. Mitten im prallen Leben über den Tod nachzudenken, ist für unser Gehirn eine ziemlicheZumutung. Aber um die Mitte des Lebens, wenn man anfängt, nicht mehr jung zu sein, und erlebt, wie die Menschen um einen herum zu sterben beginnen, verändert sich die Sichtweise. Als Jugendliche haben wir verschwenderisch in den Tag hinein gelebt und nun realisieren wir, dass unsere Tage gezählt
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