Leben macht Sinn
bisher ungeahnte Fenster nach dem Leben. Eine andere Art von Schauen und Hören entsteht. Die Landschaft, die Begegnungen, die Gesichter, die Bäume, die Abendstimmungen sprechen unmittelbarer zu uns. Meist gerade im engsten Raum, in der Einsamkeit, der Aussichtslosigkeit, wenn Wege zu Ende gehen, beginnt ein neuer Weg.
»Ich habe mich wie in einer Mondlandschaft gefühlt. Mir war nur noch kalt. ›Halt es aus‹, sagte ich mir, denn ich dachte, ich werde verrückt. Plötzlich fiel mein Auge auf das frische Grün und die ersten Schlüsselblumen. Unglaublich – sie kommen immer wieder. Plötzlich wurde ich ganz weich, fast heiter und hatte das Gefühl – das Leben kommt auch wieder zu mir. Es umarmt mich gerade.« So beschreibt eine junge Frau ihr Alleinsein, das sie anfänglich als Bedrohung empfand und allmählich als selbst gewählten, notwendigen Ort innerer Wandlung.
Es ist wichtig, zumindest zeitweise bei sich einzukehren, so wie wir sind – endlich, unvollkommen, mit Ängsten, Rissen und Fehlern – denn Alleinsein ist nicht nur das beste Heilmittel gegen Einsamkeit, wie C. G. Jung dieses Paradox beschrieb, sondern auch unser Geschenk für die anderen um uns, die sich so daran gewöhnen, dass es nicht gegen sie gerichtet ist. Ein heute noch aktueller Gedanke hierzu stammt vom Philosophen Marc Aurel: »Die Menschen suchen sich Orte, an die sie sich zurückziehen können, auf dem Lande, an der See und im Gebirge. Undauch du hast es dir zur Gewohnheit gemacht, dich danach mit ganzem Herzen zu sehnen. Doch das ist wirklich in jeder Hinsicht albern, da es dir doch möglich ist, dich in dich selbst zurückzuziehen, wann immer du es willst. Denn es gibt keinen ruhigeren und sorgenfreieren Ort, an den sich ein Mensch zurückziehen kann, als die eigene Seele.«
Es gibt eine sinnvolle Fortbewegungsart, bei der »auch die Muskeln ein Fest feiern« (Nietzsche). Ich spreche vom Wandern, das zu Fuß, per Fahrrad oder per Boot möglich ist. Das erhöht nicht nur die Lust am Dasein. Es ist eine der natürlichen Möglichkeiten, bei Sinnen zu sein, Zwecke, Ziele und Nutzen zu vergessen, und sich einzulassen auf den Weg und sich von ihm vereinnahmen zu lassen. Das stiftet genug Sinn. Nämlich so viel Sinn, dass man für einen Moment die Frage nach dem Sinn als gelebte Antwort erfährt.
Natürlich geht Sinn nicht im Alleinsein auf, so wohltuend und sinnvoll es ist. Selbst auf der einsamen Insel entkommen wir nicht der Tatsache, dass der Weg wieder zurück zu den anderen geht. Aber um anzukommen, kehren wir erst einmal bei uns selbst ein. Denn was ist dieses Einkehren letztlich? Eine uralte Hoffnung, eine Chance, eine Phantasie, eine Möglichkeit – mehr nicht, aber auch nicht weniger.
Sinneswandel
»Ich bin einundvierzig«, sagte ein Geschäftsmann, »die Hälfte meines Lebens liegt hinter mir. Möchte ich wirklich so weitermachen?« Die Antwort kam sofort: »Nein. Es macht keinen Sinn mehr.« Es scheint geradezu, als ob unser Unbewusstes bei allem mitredet, was wir sagen; oft verstehen wir nicht, was es ausplaudert, aber bei diesem Mann war es eindeutig. Viele Jahre hatte er andere Bedürfnisse zurückgestellt und sein intensives Berufsengagement ließ die vielen Verzichte auch sinnvoll erscheinen. Nun hat seine Sensibilität eine neue Stufe erreicht: »Ich weiß, dass ich etwas ändern muss. Wenn ich es nicht tue, werde ich mein Gesicht im Spiegel nicht mehr aushalten.« Das war zwar kein tröstlicher Gedanke, aber immerhin ehrlich.
Im Strom des vorbeiflutenden Wissens liegen Inseln des Bewusstseins über uns selbst. Auf der unteren Stufe der Entscheidungen – »lieber den Zug oder das Auto nehmen«, »lieber Rotwein oder Weißwein zur Pizza Margherita«, »Mittagsschlaf oder doch besser spazieren gehen« – steht nur wenig auf dem Spiel, wenn wir uns irren. Etwas höher angesiedelt liegen diese graduellen Veränderungen,die sich aus der Anhäufung von unspektakulären Erfahrungen ergeben – »sinnlos in dieses Hobby meine Kraft weiter zu investieren«, »lohnt sich nicht, diese Fortbildung fortzusetzen«, »keine Lust mehr, ihm weiter nachzulaufen«, »Ich mag kein Fleisch mehr essen, ich werde auf vegetarische Kost umstellen.«
An der Spitze dieser Pyramide liegt etwas qualitativ anderes. Hier geht es um umfassende, existenzentscheidende Veränderungen, die Geist und Seele bewegen. Beispielsweise der Therapeut, der kurz entschlossen seine Praxis aufgab. Er konnte es einfach nicht mehr aushalten, mit
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