Leben macht Sinn
Und selbst wenn sich alle Wege dramatisch verengen, so bleibt auch auf dunkelster Strecke noch die Möglichkeit, so etwas wie einen Hoffnungsschimmer oder kleine Glücksmomente zu entdecken.
Das zeigen Schicksale wie das von Helen Keller, die ihr Augenlicht und ihr Gehör schon in jungen Jahren verlor. Statt ihr Schicksal zu verfluchen, führte sie ein nahezu normales Leben, studierte, schrieb Bücher und setzte sich für die Rechte ihrer Schicksalsgenossen ein. Sie konnte Farben riechen, z. B. Pink »wie die Wange eines Babys, oder eine sanfte Brise«; Gelb »wie die Sonne, lebendig und voller Versprechungen«; und Häuser aufgrund ihrer Geruchsgeschichte erkennen: »Es hat mehrere Schichten von Gerüchen wegen der Bewohner, Pflanzen, Parfums und Stoffe.« Selbst Städte konnte sie identifizieren: »Lange Straßen, Fußgänger, Gerüche aus Fenstern, Tabak, Gas, Früchte, Autos – ein Schwirren, das mich schaudert.« Auf die Frage, weshalb sie so glücklich sei, meinte sie: »Ich lebe jeden Tag, als wäre es mein letzter. Das Leben ist so reich an Herrlichkeit.« War sie vom Schicksal geschlagen? Von ihren körperlichen Funktionen her gesehen – ja. Von ihrem Wesen her gesehen – nein. Ihre Behinderung hat ihre Sinne für andere Welten der Wahrnehmung geweckt, die sie die Welt mit einer Intimität und Genauigkeit erleben ließen, dass sie ihr Leben als reich empfand. Aufgrund ihrer Geschichte ging sie davon aus, dass jeder Mensch »Meister seines Schicksals« ist.
Auch wenn sie später relativierte, dass nicht jeder über die Möglichkeit verfügt, an Schwierigkeiten zu wachsen, könnte ihre Geschichte dennoch für uns ein Ansporn sein,unsere Begrenztheiten nicht einfach hinzunehmen, sondern unsere Sinne für neue Wahrnehmungen zu öffnen. Das könnte heißen: statt Konzepten unseren eigenen Wahrnehmungen zu vertrauen, statt Abstraktionen unserem sinnlichen Wissen nachzugehen. Auch für Benjamin Disraeli, britischer Schriftsteller und Premierminister, war das Leiden ein wichtiges Lebenselement: »Viel sehen, viel leiden und viel studieren sind die drei Pfeiler des Lernens.« Und etwas pfiffig stand es auf einem amerikanischen Aufkleber: »Oh no! Not another one of life’s lessons!« (»Oh nein, bitte nicht wieder eine neue Lebenslektion!«)
Warum gerade ich?
Eine schwere, chronische oder unheilbare Krankheit oder ein Unfall – das fällt den meisten ein, wenn sie an einen plötzlichen Schicksalsschlag denken. Da gibt es das Beispiel mit dem Arzt, dessen Partnerin unter sein Auto geriet, als er rückwärts wenden wollte. Oder die Frau, die in dem Moment, als sie den Mann ihres Lebens traf, von einem Laster bei Glatteis gerammt wird und schwer verletzt im Spital landet. Oder die Witwe, die nach einer langen Phase der Desorientierung so langsam wieder Fuß fasst und erfahren muss, dass sich ihre Mutter das Leben genommen hat.
Wahrscheinlich haben sich alle drei mit der Frage beschäftigt: Warum? Warum musste dies geschehen? Warum ausgerechnet mir? Warum passierte es einem meiner Angehörigen?
Jedem von uns stellt sich irgendwann einmal die Frage: Warum gerade ich? Oder sogar: Was habe ich getan, um so etwas zu verdienen? Diese Frage ist menschlich, aber meist gibt es keine Antwort darauf. Oder es gibt unendlich viele Antworten, die sich immer mehr verästeln, aber letztlich in eine Sackgasse führen. Kinder fragen, warum,und wenn man ihnen eine Antwort gibt, fragen sie erneut. Die Warum-Frage ist ein gutes Beispiel dafür, wie wir versuchen, dem uns Widerfahrenen einen Sinn zu geben. Wir machen eine Erfahrung und versuchen automatisch, Gründe dafür zu finden, weil wir gelernt haben, dass Ereignisse aus anderen Ereignissen hervorgehen. Mindestens zwei Gründe sprechen jedoch gegen dieses Vorgehen: Die Welt ist viel komplexer, als dass für alles eine Erklärung zu finden wäre. Auf allen Ebenen unseres Daseins gibt es den reinen Zufall. Zweitens ist unsere eigene Sicht der Ereignisse immer beschränkt. Wir können nie alle Ursachen erfassen, dazu fehlen uns umfassende Kenntnis und ausreichend Gedächtnis. Manche Ereignisse benötigen keine greifbare Ursache, sie geschehen einfach und entziehen sich einem begreifbaren Warum. Deswegen frage ich, ob es nicht sinnvoller wäre, die Frage nach dem Warum auf sich beruhen zu lassen. Hilft es wirklich, besser mit Widerfahrnissen umzugehen oder mit ihnen zu leben, wenn wir uns mit Erklärungen und Deutungen herumschlagen? Es ist zwar natürlich, etwas oder jemandem
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