Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
Emigration aus Deutschland im April 1939 Adele und Wilhelm Halberstam. Um das Büro des Jüdischen Rates zu entlasten, boten die Halberstams an, Juden, die nachts in der ZjA wieder freigelassen wurden, bis zum Ende der Ausgangssperre aufzunehmen. »Was ja auch wirklich Menschenpflicht ist«, schreibt Adele Halberstam ihrer Tochter am 9. September nach Chile, und erzählt, dass in der Nacht zuvor 38 Personen bei ihnen einquartiert waren: »Wir legten alle vorhandenen Kissen, Decken und die Matratzen vom Liegestuhl bereit, brühten große Kannen Tee auf und kratzten zusammen, was ich noch an Tassen und Löffeln besitze.«
In der Nacht zum 11. September kommen 35 »Freigestellte« in die geräumige Wohnung, in der das Ehepaar mit seinem Sohn Albert lebt. Die Mutter schreibt ihrer Tochter am nächsten Abend: »Albert ist totmüde, aber in seinem Element. Für mich ist das einzig Unangenehme, dass morgens ein Riesenabwasch zu besorgen ist, und dass das WC aussieht wie auf einem Bahnhof.« Nachmittags geht die Familie in die Schule auf der anderen Straßenseite, wo in der Aula an den hohen jüdischen Feiertagen die Gottesdienste gefeiert werden. Nach dem jüdischen Kalender beginnt am 12. September 1942 ein neues Jahr: »Wie schön waren früher die Neujahrsvorabende! Heut war es gar nicht feiertagsfriedlich, denn die Aktion ging weiter, und wir mussten wieder auf Einquartierung rechnen. Jetzt sind wir wenigstens schon so vertraut damit, dass es ziemlich schnell geht.« Wenig später klingelt es, und 28 Personen werden bis zum Morgen aufgenommen, »darunter eine junge Frau mit einem 4jährigen Jungen im Pyjama«. Und so geht es weiter, den ganzen September.
In diesen Tagen lässt Adele Halberstam, der eine geordnete innere und äußere Haltung in schweren Zeiten als Lebensstütze Kraft gibt, in ihren Briefen einen Blick in ihr Herz zu: »Ich bin in einer verzweifelten Stimmung. Dazu trägt auch die Nachricht von Olga N. bei, dass sie am 31.8. fort musste … Das Wetter ist unbeschreiblich schön, aber der Sonnenschein passt gar nicht zu unserer Stimmung; das Fragezeichen vor jedem nächsten Tag ist zu groß.« Gegen Septemberende spricht sie sich und den Lieben im fernen Chile wieder Mut zu: »Auch diese Zeiten werden wir mit Gottes Hilfe überstehen und dann umso glücklicher sein. Ihr kennt ja meine Devise: ›Fest an Gott und bess’re Zukunft glauben.‹«
Ihre Sorgen, ihre Ängste und Verzweiflungen mussten die Juden in Amsterdam allein mit ihresgleichen teilen, denn längst war es ihnen verboten, die Wohnungen nichtjüdischer Freunde zu betreten, und sie durften umgekehrt keinen Besuch von Nichtjuden empfangen. Doch die rund neunzig Prozent Amsterdamer, die keine Juden waren, konnten so blind und so taub gar nicht sein, um zu übersehen oder nicht zu hören, was sich seit Mitte Juli in ihrer Stadt abspielte, die für alle Einheimischen, Juden wie Christen, das geliebte Mokum war. Die nichtjüdischen Erwachsenen wussten es, und die Kinder ebenso, denn die jüdischen Viertel waren kein Getto. Seit Jahrhunderten wohnten, arbeiteten und lebten in der Stadt an der Amstel Juden und Christen Tür an Tür.
An einem schönen Sommerabend wurde die Straße abgesperrt, in der Jan Meijer mit seiner nichtjüdischen Familie wohnte: »Jede Wohnung wurde durchsucht und alle, die noch nicht fort waren, wurden mitgenommen. Meine Eltern, mein kleiner Bruder und meine Schwester standen auf dem Balkon und sahen, wie unsere Nachbarn mitten auf der Straße eine immer länger werdende Reihe bildeten.« Mit Frau Feitsma, die über ihnen wohnte, hatten Jans Eltern abgesprochen, dass sie von ihren zwei Söhnen einen, nämlich Japie, bei den Meijers zurücklassen konnte, wenn die Polizisten zu ihr kämen. Herr Feitsma war schon abgeholt worden. An diesem Abend war Japie zufällig unten, um mit Jan und dessen Bruder in einem Bett zu schlafen. Als die Polizisten – ein Deutscher und ein Niederländer – bei den Meijers erschienen und die Papiere prüften, bemerkten sie Japie nicht. Dann gingen sie in den zweiten Stock zu Frau Feitsma.
»Vom Balkon aus sahen wir, wie Frau Feitsma und ihr anderer Sohn Philip aus der Haustür kamen und sich in die enorme Menschen-Reihe stellen … Niemand sagte etwas, über allem hing eine schreckliche Stille. Plötzlich sahen wir, dass Frau Feitsma zu einem deutschen Soldaten lief, es war, als ob sie ihn etwas fragte.« Gleich darauf klingelt es bei den Meijers. Frau Feitsma kommt die Treppe herauf und
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