Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
Gottesdienst am Schabbat nicht nehmen.
Heimlich kamen sie aus allen Teilen der Stadt jeden Freitag in das elegante Jugendstilhaus Nieuwe Keizersgracht 33. Im Parterre des Hauses lebte unbehelligt mit seiner Frau Salomon Mendes Coutinho, ehemals Küster der portugiesischen Synagoge. Das Ehepaar war während der Razzia im Mai 1943 nach Westerbork deportiert worden. Sie konnten aber wieder nach Amsterdam zurückkehren, nachdem die Ehefrau Elisabeth Cardosa als »arisch« anerkannt worden war.
Dokumentiert ist ein heimlicher Gottesdienst vom 8. Oktober 1944. Da trafen sich rund dreißig untergetauchte Juden in der Nieuwe Keizersgracht 33 und feierten im ersten Stock das jüdische Laubhüttenfest. Plötzlich kräftiges Klopfen an der Haustüre. Elisabeth Cardosa geht hinunter und öffnet die Tür. Vor ihr steht ein SS -Mann. Er sucht eine bestimmte Adresse und hat sich verlaufen. Elisabeth behält die Nerven, bittet ihn an eine Nebentür des Hauses, um jedes verdächtige Geräusch, jedes verdächtige Zeichen auszuschließen, und erklärt ihm den Weg. Der SS -Mann dankt und zieht weiter. Der nichtjüdische Nachbar und Maler Anton Witsel, seit langem solidarischer Mitwisser der Verfemten, war zu der heimlichen Feier geladen, und hat eine Skizze vom Laubhüttenfest im »judenreinen« Amsterdam angefertigt.
Was für alle Beteiligten besonders gefährlich war: In den Keller des Hauses Nieuwe Keizersgracht 33 brachten die untergetauchten Juden, wenn eben möglich, die Leichen von Glaubensgenossen, die im Untergrund gestorben waren. (Ein großes Problem bei jüdischen wie christlichen Untergetauchten.) Elisabeth Cardosa hat die Toten entsprechend den jüdischen Reinigungsvorschriften gewaschen. Dann mussten sie heimlich nach Zeeburg zum jüdischen Friedhof überführt werden.
Am 8. Oktober 1944 startete im Concertgebouw eine neue Konzertreihe. Das Gebäude in Sichtweite des Rijksmuseums war für viele immer noch eine Insel, um durchzuatmen und aufzutanken; mochte der große Saal durch die Propaganda-Veranstaltungen der Nationalsozialistischen Bewegung und der deutschen Besatzer auch vielen Musikfreunden wie beschmutzt vorkommen. »Musik um eins« hieß das neue tägliche Angebot, eine attraktive Idee, da ab 20 Uhr Ausgangssperre war. Auffallend war, wie penetrant Landwehr-Männer, in der Regel NSB ler, die Ausweise der Konzertbesucher und deren Fahrräder in den Unterständen rechts vom Eingang kontrollierten. Nach einer Woche wurde die tägliche Konzertreihe unerwartet abgebrochen.
Die illegale Zeitschrift De Vrije Kunstenaar (Der Freie Künstler), die der ermordete Bildhauer und Widerstandskämpfer Gerrit van der Veen 1941 gegründet hatte, erfuhr, warum die »Musik um eins« abgesetzt worden war. Die künstlerische Leitung des Concertgebouw unterbreche nicht gerne ihre Konzertreihen, es müsse etwas Ernstes vorgefallen sein. Während drinnen um ein Uhr die Musik spielte, so die Zeitschrift, »holte die Landwehr – oder waren es die Moffen selber? – die Fahrräder der Besucher und der Orchestermitglieder aus den Unterständen«. Dann erinnerte die Redaktion daran, dass das berühmte Orchester sich während der Besatzung bisher sehr still verhalten habe: »Was weder die Entlassung der jüdischen Orchestermusiker noch alle bisherigen Menschenjagden bewirkten, löste nun der Fahrraddiebstahl aus.« Konnte man nun hoffen, dass endlich alle Konzerte als Zeichen des Protestes eingestellt würden: »Aber nein. Die Konzerte wurden wieder aufgenommen.«
Am Ende des Artikels ließ De Vrije Kunstenaar alle Ironie fallen: »Nein, wir bewundern die Leitung des Concertgebouw, seine Dirigenten und seine Solisten nicht. Sie verrichten nach unserer Meinung eine Art Kollaborationsarbeit, über die sie notwendigerweise bald Verantwortung werden ablegen müssen.« Noch im November wurden alle Concertgebouw-Musiker vom gefürchteten Arbeitseinsatz durch die Besatzer befreit; sie mussten sich vor keiner Razzia fürchten. Und sie bekamen, während die Nahrungsmittel-Situation und der Brennstoffmangel in der Hauptstadt täglich dramatischer wurden, Extrarationen an Lebensmitteln und Kohlen.
Im kleinen Saal des Amsterdamer Musiktempels war im Oktober die Kabarett-Revue »Wer nicht wagt …« mit Texten von Wim Ibo über die Bühne gegangen. Der Abgesandte der NSB -treuen Kulturkammer lobte die »Witze über Bäumefällen im Vondelpark, die Verdunkelung, die Zentralen Küchen«. Doch als Wim Ibo eine Parodie über den Abschied von
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