Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
Überlegungen« an, wie er reagieren würde, wenn Polizisten, die vom Arbeitsdienst nicht befreit waren, während einer Razzia untertauchten. Er fand das »menschlich verständlich« und erklärte, bei einer baldigen Rückkehr aus dem Untergrund beide Augen zuzudrücken – »ich will mein Personal behalten«.
Wenn die Befreiungsarmeen vorläufig nicht weiter in Richtung besetzte Niederlande marschierten, wollten die Alliierten wenigstens Zeichen setzen, die den Eingeschlossenen Mut machten und zugleich den Terror-Apparat der deutschen Besatzer zum Teil lahmlegten. Am 26. November stiegen von einem befreiten belgischen Militärflughafen 24 Typhoons auf, ihr Ziel: Amsterdam Zuid, Euterpestraat 91–109 und der angrenzende Adama van Scheltemaplein, wo im Gebäude einer ehemaligen Mädchenschule der deutsche Sicherheitsdienst, polizeilicher Arm der SS , seit Jahren seine verbrecherischen Aktionen plante und Gefangene folterte. Wo die Deportationen der Juden organisiert worden waren und aufgegriffene Juden vor der Fahrt nach Westerbork bei jedem Wetter stundenlang auf dem Schulhof lagern mussten.
Es war Zeit zum Mittagessen in der Euterpe-, Rubens- und Beethovenstraat, als die Militärmaschinen im Tiefflug über das Viertel donnerten und ihre Bomben ausklinkten. Die Menschen suchten im ohrenbetäubenden Lärm Schutz unter den Türrahmen, während die Fenster zersprangen und der Sand aus den schwankenden Wänden rieselte. Nach zehn Minuten war alles vorbei, die folgende Stille kaum zu ertragen. Was von den Alliierten als zielgenauer Angriff auf das SD -Gebäude geplant war, endete in einer Katastrophe für die Bewohner der umliegenden Häuser: Etwa dreißig Häuser wurden bei diesem Luftangriff zerstört, rund fünfzig Menschen fanden den Tod in den Trümmern, vierzig wurden zum Teil schwer verletzt. Zwar wurde auch das Schulgebäude getroffen, doch von den deutschen SD lern wurden nur vier getötet. Entgegen den Erwartungen war die Kantine um diese Zeit schon leer; die SS -Männer zogen um in ein Hotel in der Apollolaan.
Viel Zeit zum Trauern blieb denen, die Bombenopfer zu beklagen hatten, nicht. Der alltägliche Überlebenskampf forderte alle Kräfte. Am 29. November 1944 telegrafierten die Vertrauensmänner im Widerstand nach London, dass die Lebensmittelsituation in Amsterdam auf eine Hungersnot zusteuere; Plünderungen nähmen zu, wahllos würden Bäume gefällt. Es drohe Anarchie. Die unausgesprochene Frage: Sind die eigenen Opfer nicht zu groß, ist die Verhältnismäßigkeit der Mittel, um die Besatzer in die Knie zu zwingen, noch gegeben? Seit dem 17. September hatte kein Zug, kein Schiff die Hauptstadt mit Nahrungsmitteln beliefert.
Die Exilregierung verordnete Durchhalten: Der Eisenbahnerstreik wird nicht aufgehoben. Und die Schiffer im Osten des Landes steckten immer noch in mühsamen Verhandlungen, um eine Struktur zu schaffen, die jeden direkten Kontakt mit den deutschen Besatzern beim Beladen der Schiffe mit Nahrungsmitteln ausschloss. Anfang Dezember standen den Amsterdamern, die weiterhin ihre Bons für alle Lebensmittel und Konsumgüter auf den Verteilungsbüros abholen mussten, pro Person und Woche noch 1000 Gramm Brot zu. Die Preise auf den Schwarzmärkten, von denen viele im Jordaan lagen, stiegen in schwindelnde Höhen. Die Polizei war machtlos gegen die Händler-Mafia.
In den Auslagen vieler Geschäfte lagen nur noch Angebote für Tauschgeschäfte: »Tausche Übergardinen gegen Kartoffeln – Tausche Babysachen gegen Bons«. Die Kriminalität stieg deutlich. Im September verzeichnete die Amsterdamer Polizei 1473 Diebstähle, im Oktober 2253; im November 2788, im Dezember 3759. Parallel dazu schnellten die Überfälle in die Höhe, von 58 im November auf 105 im Dezember 1944. Wie kann der Mensch in einer europäischen Metropole im 20. Jahrhundert sein inneres Gleichgewicht wenigstens einigermaßen bewahren, wenn sich das über Generationen eingeübte, selbstverständliche Regelwerk des Lebens auflöst, zerbröselt? Wenn die Spirale der Rücksichtslosigkeit und Gewalt sich immer schneller dreht, alles ergreift und infiziert?
8. Dezember – Willem Henneicke, vom Frühjahr bis in den Herbst 1943 Chef der »Kolonne Henneicke«, verlässt um 9 Uhr morgens mit dem Fahrrad seine Erdgeschosswohnung am bürgerlichen Linnaeusparkweg 79 im Transvaalviertel. Rechts fährt er die stille Straße entlang, vorbei an Haus Nr. 63, wo die Männer von seiner »Kolonne« auf der Jagd nach untergetauchten
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