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Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)

Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)

Titel: Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Beuys
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Fahrrädern mit Gummibereifung – die schon längst durch Holz ersetzt war – schrieb, ließ die Zensur dieses witzige Abschiedslied nicht durchgehen. Vor allem wegen der letzten Strophe: »Aber, verflixt nochmal, ich muss nicht traurig sein; wir werden eines Tages wieder durch die Straßen flitzen! Wir werden eines Tages wieder ohne Sorgen sein, wenn wir wieder frei sind, im Sonnenschein! … Dann trete ich mir mit den Pedalen allen Ärger von der Seele, dann gehen wir wieder zusammen ins Leben: Vorwärts!« Der Zensor hatte recht: Diese Zeilen konnte man nicht nur auf die holpernden Räder mit Holzreifen beziehen.
    Als der Oktober zu Ende ging, waren alle Hoffnungen zunichte, dass Amsterdam den kommenden Winter als befreite Stadt erleben würde. Die Alliierten hatten beschlossen, zeitgleich mit den Russen, deren Armeen von Osten kamen, erst ins westliche Deutschland vorzustoßen. Die Deutschen sollten durch die Eroberung des eigenen Landes zur Kapitulation – auch in den noch besetzten europäischen Ländern – gezwungen werden. In den Niederlanden fuhren weiterhin keine Eisenbahnen und keine Schiffe, die Nahrung und Kohlen nach Amsterdam hätten schaffen können. Zwar hatte der Reichskommissar am 16. Oktober das Embargo für niederländische Transportschiffe aufgehoben. Die Aussicht auf Hungersnot und in deren Folge Krankheiten und Seuchen aller Art in den großen Städten schreckte die Besatzer. Sie befürchteten Unruhe, wenn nicht Aufstände in der Bevölkerung. Doch kein Schiff bewegte sich auf den Kanälen. Die niederländischen Seeleute weigerten sich – auch wenn es um Nahrung und Kohlen für ihre Landsleute ging –, mit deutschen Instanzen zu kooperieren. Sie fürchteten außerdem die Luftangriffe der Alliierten, die nicht zwischen militärischen und zivilen Schiffsladungen unterschieden.
    Mit dem Winter kam die Kälte, und die Heizungen blieben kalt: keine Kohlen, kein Gas, kein Strom. Im November wurden in Amsterdam weitere Museen und Gemeindebüros geschlossen. Wer einen Ofen hatte, versuchte auf jede Weise an Brennholz zu kommen. Am 14. November wurde auf Anweisung der Stadtverwaltung der Vondelpark geschlossen, ein Herzstück Amsterdams. Die meisten Bäume waren ohnehin abgesägt, abgehackt und abgebrochen; Büsche und Pflanzen ausgerissen, ein trauriger Anblick. Viele sahen es mit Entsetzen. Aber sie nahmen sich nicht aus davon, dass unausgesprochene Regeln und das, was man bisher als »Anstand« für verbindlich angesehen hatte, keine Gültigkeit mehr besaßen. Jeder dachte nur an die eigenen Bedürfnisse.
    Am 11. November wieder ein schockierendes Ereignis, das sich schnellstens in Amsterdam herumsprach: Im Hafen kamen Schiffe aus Rotterdam an, bis zum letzten Platz gefüllt mit Gefangenen – niederländische Männer zwischen 16 und 55 Jahren. In Rotterdam war den Besatzern tags zuvor ein Überraschungscoup gelungen. Sie hatten die gesamte Stadt abgeriegelt, Gewehre, Geschütze und Soldaten an zentralen Punkten in Stellung gebracht und Aufrufe in die Briefkästen geworfen: Alle Männer zwischen 16 und 55 Jahren mussten sich sofort auf die Straßen begeben, versehen mit Butterbroten für einen Tag. Frauen und Kinder hatten in den Wohnungen zu bleiben. Die Haustüren mussten offenstehen, bis alle Männer zum Arbeitsdienst abgeführt waren. Wer zu fliehen versuchte oder Widerstand leistete, wurde auf der Stelle erschossen.
    »Aktion Rosenstock« hieß das Codewort für den Versuch, endlich eine gewichtige Zahl von Arbeitskräften für Deutschland zu bekommen. Alle Aufrufe, von massiven Drohungen begleitet, waren erfolglos geblieben, und der Ertrag der punktuellen Razzien an »Menschenmaterial« war viel zu gering. Rund 50   000 Männer wurden am 10. Oktober in Rotterdam gefangen genommen. Etwa 20   000 mussten zu Fuß bis Delft und Utrecht marschieren und wurden dort in Züge nach Deutschland gesteckt. 10   000 kamen direkt in der Hafenstadt in die Züge. 20   000 wurden mit Schiffen über Amsterdam nach Kampen geschafft und bestiegen dort die Züge ins Reich. Weitere Aktionen nach dem »Rosenstock-Muster« folgten in den nächsten Wochen in Den Haag, Haarlem und Apeldoorn.
    Amsterdam blieb von ähnlich großen Unternehmungen verschont. Doch am 22. Oktober startete die deutsche Polizei wieder eine Razzia auf junge Männer in den Vierteln De Pijp und Jordaan. Der niederländische Chef der Amsterdamer Polizei stellte daraufhin in Anwesenheit enger Mitarbeiter lautstark »dienstliche

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