Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
im fünften Jahr unter nationalsozialistischer Besatzung eine Nische, wo Schauspieler und Publikum das »gesunde Volksempfinden« in Sachen Sexualmoral negierten.
Wer das Radioverbot der Deutschen nicht befolgt hatte und in der Wohnung ein Gerät versteckt hielt, war nicht mehr nur auf Radio Oranje aus London angewiesen. Am 3. Oktober 1944 hatte bei Philips im befreiten Eindhoven Radio Herrijzend Nederland (Radio der wieder auferstehenden Niederlande), »der freie Sender auf vaterländischem Boden« seine Antennen aufgebaut. Er brachte Nachrichten, klassische Musik und anglo-amerikanische Tanzmusik. Für die Amsterdamer wehmütige Erinnerung an die dreißiger Jahre, aber auch das Versprechen, demnächst in der Hauptstadt die goldenen Swing-Klänge wieder live zu hören.
Im freien Sender wurde auch die neue Aufnahme von Eddy Christiani gespielt, der zwei, drei Jahre zuvor in den Niederlanden mit seinen Schlagern über das »Sonnige Madeira« und den »Alten Cowboy« die politische Zensur unterlaufen hatte und zum Publikumsliebling geworden war. Christiani, Jahrgang 1918, der 1939 als erster Musiker in den Niederlanden mit einer E-Gitarre aufgetreten war, tauchte 1943 unter und floh nach Belgien. Ab Oktober 1944 sang er mit einem englischen Armee-Orchester und ermutigte die Niederländer in den noch nicht befreiten Gebieten wie Amsterdam mit seinem Schlager »Ich sehe die Sonne, auch wenn sie nicht scheint«. Doch nun endlich zeigten sich erste Strahlen.
Mitte Dezember hatten die Binnenschiffer im Osten eine private Gesellschaft gegründet, der es gelungen war, 13 000 Tonnen Lebensmittel auf Transportschiffe zu laden, unbehelligt von deutschen Besatzern. Endlich konnte die erste Fahrt seit Mitte September über das IJ sselmeer beginnen, um eine Hungersnot in Amsterdam gerade noch abzuwenden. Da schlug am 23. Dezember das Wetter um. Von einem Tag auf den anderen setzte Frost ein, mit äußerster Strenge. Das IJ sselmeer, ein Binnensee, fror zu. Längst hatten die Deutschen alle niederländischen Eisbrecher geraubt und ins Reich gebracht. Die Schifffahrt auf dem IJ sselmeer und auf den Kanälen kam zum Erliegen.
Die Lebensmittel-Schiffe mussten in den östlichen Häfen bleiben. Der Wetterbericht meldete: bis weit übers Jahresende keine Änderung in Sicht. Wieder mussten die Amsterdamer, seit fast fünf Jahren unter deutscher Besatzung, mit einer riesengroßen Enttäuschung fertig werden. Ihre Hoffnung sank ins Bodenlose.
XVII
Verweigert den Arbeitsdienst – Rache der Besatzer: Mord am Rozenoord – Hungerfahrten – Zum Mittagessen Tulpenzwiebeln – Keine Särge für die Toten – Wally van Hall: Verraten – Noch mehr Terror – Der Hass wächst
24. Dezember 1944 bis 24. April 1945
Für die Weihnachtsausgabe schrieb der Journalist Max Nord, der seit Gründung der illegalen Zeitschrift Het Parool dem engen Kreis der Redaktion angehörte, ein »Gebet zu Weihnachten 1944«: »Was tun wir mehr als hungern und als hassen, / Jetzt nach fünf Jahren? Nie war die Not so groß; / Wir bitten nur um Deinen Frieden und Dein Brot / und dass der Kummer endlich soll vergehen. / … Mach, dass der Feind vertrieben wird.« Weit lag die Zeit zurück, als die Amsterdamer das Gefühl hatten, sich mit den Besatzern arrangieren und in diesem Rahmen weiterhin ihr eigenes Leben führen zu können. Jetzt war der Hass von allen Gefühlen das ausschlaggebende geworden, und die Besatzer führten ihm immer neue Nahrung zu.
Am 26. Dezember meldete Het Parool, dass der Zeitung geheime Unterlagen für eine Aktion der Besatzer vorlagen, mit denen zum neuen Jahr alle Männer von sechzehn bis vierzig Jahren zum Arbeitseinsatz in Deutschland oder am niederländischen Atlantikwall gezwungen werden sollten. Zwei Tage später erschienen an Litfaßsäulen und Wänden Anschläge, auf denen H. Liese, der »Generalbevollmächtigte für den totalen Krieg« die genannten Jahrgänge unter Strafandrohungen aufrief, sich zum 5. Januar 1945 bei den Arbeitsämtern zu melden. Ihren Familien wurden Sonderzuteilungen an Lebensmitteln versprochen; wer beim Untertauchen half, dem drohten schwere Strafen.
Das Amsterdamer »Arbeits-Komitee« der Widerstandsgruppen reagierte zu Silvester mit massiver Gegenpropaganda auf die »Liese-Aktion«. Mit Flugblättern rief es dazu auf, nicht zu den Arbeitsämtern zu gehen, sondern unterzutauchen: »Ist hier noch so groß die Not, in Deutschland wartet nur der Tod«. An vielen Mauern prangte die Parole der
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