Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
Können beurteilt. Nicht anders erging es den jüdischen Künstlern, die aus Deutschland kamen wie Rudolf Nelson oder Dora Gerson.
Die Historiker sind sich darin einig, dass die Juden Amsterdams in den dreißiger Jahren zu einem hohen Teil gesellschaftlich etabliert und kulturell integriert waren. Das schließt antijüdische Vorurteile nicht aus, oder einen »sanften Antisemitismus«, wie es manche Experten nennen. Witze über Juden waren im Umlauf, manch einer sah von oben auf die »Joodjes«, die Jüdlein, herab. Der »Große Klub« der Industriellen am Dam hatte keine jüdischen Mitglieder. Die jüdische Minderheit wurde weiterhin als eine Gruppe für sich gesehen. Abgrenzung jedoch war in der »versäulten« niederländischen Gesellschaft nicht die Ausnahme sondern die Regel.
Als Jude kann man mit antijüdischen Vorurteilen besser leben, wenn man weiß, dass ein holländischer Protestant jeden Katholiken zur Hölle wünscht, wenn der Katholik niemals seine Kinder in eine protestantische Schule schicken würde. Ein jüdischer Ruderverein fühlt sich nicht als Außenseiter, wenn es selbstverständlich katholische, protestantische und sozialistische Ruderklubs gibt. Keine Minderheit ist diskriminiert, wenn die »Souveränität im eigenen Kreis« allgemeine Richtschnur für die Gesamtstruktur der Gesellschaft ist. Wenn der Grundsatz gilt, dass jede Gruppe ihr eigenes Milieu bildet und zugleich das Existenzrecht der anderen akzeptiert und alle in übergreifenden Bereichen zu Kompromissen bereit sind.
Politisch-rassistischer Antisemitismus zeigte sich zuerst bei den niederländischen Nationalsozialisten. Es war ein Tabubruch, als eine NSB -Zeitung 1936 eine antisemitische Kampagne begann. Als im April 1937 Dora Gerson im La Gaîté auftritt, stören Amsterdamer NSB -Mitglieder die Vorstellung der aus Deutschland geflüchteten jüdischen Kabarett-Sängerin mit lauten antisemitischen Bemerkungen. Stolz schildert die sozialdemokratische Zeitung Het Volk, was dann geschah: »Sie standen allerdings augenblicklich draußen in der kühlen Luft … ihr Verschwinden wurde vom Publikum mit Applaus begrüßt.«
Im Mai 1937 stellte sich die NSB erstmals nach dem sensationellen Erfolg von 1935 wieder zur Wahl. Die Aktion »Einheit durch Demokratie« ( EDD ) hatte sich inzwischen mit 30 000 Mitgliedern zu einer Massenbewegung entwickelt. Im Wahlaufruf der EDD wurde an die Grundprinzipien des niederländischen Volkes erinnert: Verbundenheit mit dem Haus Oranien – Treue zu Prinzipien des Christentums und der Menschlichkeit – Kampf für die Gewissensfreiheit. Die Wähler wurden aufgerufen, ihre Stimme keiner nationalsozialistischen oder kommunistischen Partei zu geben: »Lasst die Antwort an jene, die unser Volk dem Untergang weihen wollen, deutlich sein«. Die Antwort war eindeutig: Die NSB sackte landesweit von knapp 8 auf 4 Prozent ab.
Nach diesem Misserfolg nähern sich die niederländischen Faschisten programmatisch mehr und mehr den deutschen Nationalsozialisten an. 1938 wird Anton Mussert erklären, dass die NSB im Gegensatz zur bisherigen Praxis für Juden verboten ist. Doch die »Bewegung« gewinnt durch ihre Radikalisierung keine neuen Mitglieder. Gestern noch als Idealisten innerhalb der Gesellschaft geduldet, gelten NSB -Anhänger zusehends als »Hitler-Knechte« und »Verräter«, die sich außerhalb des grundlegenden nationalen Konsens stellen.
Auch in anderen Bereichen scheint sich eine Wende zu früheren soliden Zuständen anzudeuten. Die Zahl der Arbeitslosen geht 1937 erstmals seit 1930 zurück. Den Lieblingsschlager des Jahres singt Lou Bandy, ein Meister einfacher, fröhlicher Lieder und Revue-Star im Theater Carré; der flache Strohhut Modell »Kreissäge« ist sein Markenzeichen. »Bring Dir Freude ins Leben, schieb die Sorgen beiseite«, ermuntert Bandy, »was andre Dir nicht geben können, hast Du selber in der Hand … Als Jonas im Walfischbauch saß, kam er doch auch wieder heraus.« Die bibelfesten Niederländer nahmen diesen Stimmungsmacher dankbar auf. Doch der Frömmste kann nicht in Frieden leben, wie es der Pessimist Wilhelm Busch formuliert, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.
Am 12. März 1938 überqueren 65 000 Soldaten der deutschen Wehrmacht die Grenze nach Österreich. Drei Tage später verkündet Hitler auf dem Heldenplatz in Wien »den Eintritt meiner Heimat in das Deutsche Reich«. Tausende Österreicher, vor allem Juden – auch Emigranten, die dort auf Sicherheit
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