Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
Hitler-Deutschland signalisieren: Wir wollen kein Zufluchtsort für Gegner der deutschen Regierung werden und damit indirekt Partei ergreifen, sondern neutral bleiben. Seit rund 120 Jahrhunderten waren die Niederlande mit ihrer Neutralitätspolitik gut gefahren und in keinen europäischen Krieg verwickelt worden. Das nennt man Realpolitik, und für die gibt es stets gute Gründe.
Aber Tausende Amsterdamer wollten Flagge zeigen gegen die menschenverachtende antijüdische Politik der deutschen Regierung und waren im September 1935 dem Aufruf des Komitees für Jüdische Angelegenheiten gefolgt. Es war im Frühjahr 1933 gegründet worden, um für die jüdischen Flüchtlinge aus Deutschland materielle und seelische Hilfe zu leisten. Vier Tage nach der Verabschiedung der »Nürnberger Rassengesetze« durch den Deutschen Reichstag am 15. September 1935 protestierten Frauen und Männer in der Apollohalle in Amsterdam Zuid, einem eleganten Bau der Amsterdamer Schule, gegen die erneute Entrechtung und Unterdrückung »ihrer Glaubensgenossen in Deutschland«, die »zu Menschen zweiten Ranges« erklärt worden seien. Die Stimmung der Zuhörer wechselte zwischen atemloser Stille und donnerndem Applaus. Minutenlange Ovationen bekamen der protestantische Theologe, der das jüdische Volk einen Segen für die Menschheit nannte und mit einem »Heil Israel« endete und der katholische Kaplan, der ausrief: »Wenn es um die Niederlande geht, dann sind wir keine Katholiken, keine Protestanten, keine Juden – dann sind wir alle Niederländer.«
Seit jüdische Flüchtlinge um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert an die Amstel kamen, mussten sie sich nicht verstecken, sondern konnten sich in ihrem »neuen Vaterland« sicher und geborgen fühlen. Und daran hatte sich bis 1935 nichts geändert: In den Niederlanden gab es keine Verfolgungen, mussten Juden keine Vertreibung fürchten und konnten ihre religiösen Gesetze und Traditionen frei leben.
Während sich in Deutschland und Frankreich gegen Ende des 19. Jahrhunderts politische Parteien gegründet hatten, die Antisemitismus in ihr Programm schrieben, schloss das niederländische Nationalgefühl die jüdischen Bürger mit ein. Es gab keine »Judenfrage« in Holland. Antisemitismus war, anders als in den Nachbarländern, weder in den feinen Kreisen noch in der Öffentlichkeit salonfähig. Es erschienen keine Zeitungsartikel voller Hass auf die »jüdische Rasse«.
Nach der Volkszählung von 1930 lebten in der Hauptstadt der Niederlande 65 523 Menschen, die als Religionsangabe »jüdisch« ankreuzten. Das bedeutet: 58,5 Prozent aller holländischen Juden lebten in Amsterdam und stellten dort 8,6 Prozent der Bevölkerung. Von der Gesamtbevölkerung der Niederlande wiederum machten die Mitglieder der jüdischen Gemeinden gerade einmal 1,41 Prozent aus. In Amsterdam waren die Juden im Durchschnitt so arm und so reich wie die Mehrheitsbevölkerung und in allen Schichten vertreten.
Parallel zu Entwicklungen in den christlichen Konfessionen gingen die Bindung an die Gemeinde und der Synagogenbesuch zurück. Doch wie fern man seinem Glauben auch stand: Am Freitagabend, wenn der Schabbat begann, kamen die Juden in allen Vierteln Amsterdams zu einer festlichen Mahlzeit im großen Familienkreis zusammen, und die traditionelle Hühnersuppe durfte nicht fehlen. Mehr als achtzig koschere Geschäfte konnten sich an der Amstel halten: Metzgereien, Bäckereien, Hühner- und Kuchengeschäfte, dazu einige Restaurants, und alles wurde auch eifrig von der nichtjüdischen Bevölkerung genutzt.
Das alte Judenviertel in der Innenstadt, wo die Juden rund die Hälfte der Bewohner stellten, war in den dreißiger Jahren zum Teil abgerissen und saniert, aber immer noch gab es um Nieuwe Achtergracht und Weesperplein feuchte dunkle Kellerwohnungen. Hier wohnten seit Generationen Christen und Juden problemlos Tür an Tür. Ebenso lebten in den neuen Vierteln – Transvaal, Plantage, Amsterdam Zuid – wo der jüdische Anteil bei rund dreißig Prozent lag, Menschen verschiedenen Glaubens friedlich zusammen. Die geschäftige Jodenbreestraat und die beliebten jüdischen Märkte waren für alle Amsterdamer attraktiv. Und umgekehrt gilt: Ob Louis Davids, der elegante Sänger, Schauspieler und Revue-Künstler, Monne de Miranda, der populäre sozialdemokratische Kommunalpolitiker oder der Architekt Michel de Klerk, Begründer der Amsterdamer Schule: sie wurden von den Amsterdamern nach ihren Talenten und ihrem
Weitere Kostenlose Bücher