Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
hofften – flüchten, unter anderem in die Niederlande. Um dem befürchteten Menschen-Zustrom generell zu wehren, wird die Grenze für Flüchtlinge aller Nationalitäten geschlossen. Asyl wird nur noch dem gewährt, der nachweisen kann, in Lebensgefahr zu sein. Wer illegal in den Niederlanden aufgegriffen wird, kommt in eines von 25 Lagern. Der Justizminister bezeichnet die Flüchtlinge als »unerwünschte Elemente«. Die öffentliche Empörung über den Minister ist groß. Die Regierung erlaubt daraufhin aus »humanitären Gründen«, dass weitere 800 Flüchtlinge bis zum Jahresende einreisen dürfen.
Die Stimmung in den Niederlanden hat sich – nach anfänglichem wohlwollendem Abwarten – seit Mitte der dreißiger Jahre eindeutig gegen Hitler-Deutschland gewendet. Langsam tauchen neben aller Hilfe für die Flüchtlinge auch Fragen auf: Sind die jüdischen Emigranten aus Deutschland zuerst Juden oder nicht doch, trotz aller Verfolgung, zuerst ihren deutschen Wurzeln verpflichtet? War die Gefahr nicht groß, dass sich der Hass der Niederländer gegenüber NS -Deutschland mit antisemitischen Gefühlen auflud?
In den liberalen Zeitungen kommt eine Diskussion in Fahrt, die sich vor allem auf Amsterdam bezieht, wo sich die meisten Flüchtlinge niedergelassen haben: »Die natürliche Sympathie, die wir den jüdischen Emigranten entgegenbringen … wird hierzulande beeinträchtigt durch diejenigen Emigranten, die uns unsympathisch sind, nicht, weil sie deutsche Juden , sondern weil sie deutsche Juden sind.« Der Vorwurf, den Het Liberale Weekblad am 15. Juli 1938 den Emigranten macht: »Ihre Vorliebe für die deutsche Sprache, die deutschen Sitten, die Verherrlichung Deutschlands im Vergleich zu Holland sind widerwärtig.« Zum Schluss zitiert die Zeitung den »Brief einer gebildeten Dame«, die sehr viel für die Sache der jüdischen Emigranten getan habe: »Ich ›koche‹, wenn ich sehe, wie Amsterdam sich in eine deutsche Stadt verwandelt.« Genauer gesagt: Amsterdam Zuid war der Stein des Anstoßes.
Die deutschen Juden in Amsterdam Zuid pflegten in der Öffentlichkeit unüberseh- und unüberhörbar ihre deutschen Eigenheiten: Sie trugen feine Pelzjacken und teuren Schmuck und machten ihre Bestellungen in Cafés, Eissalons und Geschäften auf Deutsch, meist sehr laut. Vom Schaffner in der Straßenbahn-Linie 24, von den Amsterdamern nur noch »Berlijn Expres« genannt, forderten sie ihren Fahrschein unmissverständlich auf Deutsch.
Untereinander, aber auch gegenüber ihrem Gastvolk, nahmen die Vergleiche mit der Heimat, in der doch ihr Leben bedroht gewesen war, kein Ende. Von ihren niederländischen Nachbarn wurden sie bald die »Bijunskis« (Bei-uns-Menschen) genannt: »Bei uns war alles besser … Bei uns wäre das nicht möglich gewesen…!« Kaum einer machte Anstrengungen, sich der holländischen Kultur zuzuwenden, die Sprache zu lernen. Das alles schmerzte die niederländischen Juden doppelt: Sie fühlten mit ihren vertriebenen Glaubensgenossen und waren mit ihnen solidarisch; aber als Niederländer empfanden sie das Auftreten der Flüchtlinge als überheblich, ungehörig, undankbar.
Im September 1938 war in Amsterdam endlich wieder Gelegenheit, zu zeigen, wie sehr die ganze Nation sich als Einheit verstand. Die Hauptstadt konnte die Menschen kaum fassen: Eine Million Menschen kamen aus allen Teilen des Landes, als Königin Wilhelmina ihr vierzigjähriges Thronjubiläum feierte. Es begann mit einem festlichen Gottesdienst in der Nieuwe Kerk, dann folgte ein Konzertabend im Concertgebouw unter der Leitung von Willem Mengelberg, und am 9. September der Höhepunkt: In stundenlangem Defilee huldigten im Olympiastadion alle Teile der Gesellschaft bis weit in die Dunkelheit der Königin, die seit vier Jahren Witwe war. Königin Wilhelmina fasste die Erwartungen der Menschen in Worte, wenn sie erklärte, ihre »Pflicht gegenüber dem Vaterland zu erfüllen in dunklen Zeiten« sei für sie »mehr denn je Quelle der Freude«. Es war eine große Feier gegenseitiger nationaler Ermutigung.
Am 1. Oktober marschierten wiederum deutsche Soldaten über eine Grenze, diesmal besetzten sie das Sudetenland. Am 21. Oktober fand nachts die erste Verdunkelungs-Übung in Amsterdam statt. In der Stadt waren Sirenen angebracht worden, und die Bevölkerung sollte alle Fenster mit dicken Gardinen licht-dicht abschließen. Die Flugzeuge, die das Experiment von oben beobachteten, kamen mit schlechter Nachricht zurück: nicht nur,
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