Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
verliert drei Sitze, die gleiche Anzahl von Sitzen gewinnt mit 6,9 Prozent die NSB .
Nur wenige Wochen später, im Juli 1939, geht auf der nationalen Bühne nach zwanzig Jahren die Koalition der konfessionellen Parteien – Protestanten und Katholiken – zu Ende. Ministerpräsident Hendrik Colijn führt seine protestantische ARP in die Opposition. Die Katholiken, die lange schon eine aktive staatliche Sozialpolitik fordern, um aus der Wirtschaftskrise herauszukommen, bilden mit den Sozialdemokraten und einer kleinen protestantischen Partei eine neue Mehrheit. Ein historischer Moment, denn zum ersten Mal in der Geschichte der Niederlande ist die SDAP an der nationalen Regierung in Den Haag beteiligt und stellt zwei »rote« Minister. Zwei Jahre zuvor hatten sich Hollands Sozialdemokraten in einem neuen Grundsatzprogramm von Grundprinzipien des Marxismus gelöst und dem Klassenkampf abgeschworen. Der Parteivorsitzende erklärte einem Kritiker von Links, das Land befinde sich in einem Zustand niemals gekannter Kriegsgefahr, da »müssen wir Zeugnis ablegen von unserem Glauben an die Demokratie«.
Im selben Monat Juli veröffentlichte die unabhängige Kommission zum »Erbpachtskandal« den ersten Teil ihres Berichtes und sprach den Beigeordneten Monne de Miranda von allen Vorwürfen frei, sich an städtischen Grundstücken bereichert oder unlautere Geschäfte gemacht zu haben. Doch die schwer verletzte Seele von Monne de Miranda brauchte noch Monate, um unter fachlicher Obhut langsam zu gesunden.
Am 1. Juli war Louis Davids, der Sänger, Schauspieler, Revue-Star und Meister der Kleinkunst in einer Privatklinik am Emmaplein in Amsterdam gestorben. Wegen seiner schweren Asthma-Erkrankung war der Sechsundfünfzigjährige nur noch selten aufgetreten. Aber wenn er 1939 noch einmal auf der Bühne gestanden hatte, dann sagte Louis Davids an einer Stelle des Programms beiläufig ins Publikum: »Morgens, wenn ich aufstehe, schaue ich als erstes aus dem Fenster, um zu sehen, ob ich schon im Ausland bin.« Mit dieser hintersinnigen Bemerkung, die eine plötzliche Besetzung des kleinen Landes durchaus im Bereich des Möglichen sah, stand der Künstler allerdings sehr allein. Politiker wie alle anderen gesellschaftlichen Eliten waren trotz der erfolgreichen aggressiven Expansionspolitik Hitler-Deutschlands überzeugt, dass die strikte Neutralitätspolitik die Niederlande vor allen Eroberungsgelüsten des mächtigen Nachbarn bewahren würde.
Und die Amsterdamer hielten sich gerne an das schöne neue Liedchen von Willy Derby. Der populäre Sänger fuhr im Frühjahr 1939 wieder in das Polydor-Studio in Berlin, wo er 1934 aus Anlass der Fußball-Weltmeisterschaft aufgenommen hatte »We gaan naar Rome …« Auch diesmal kam er mit einer Schallplatte zurück, die ein Hit wurde: »Morgen geht es besser, besser besser … Morgen werden die Sorgen, die wir heute haben, nicht mehr bestehen …«
Für das Ehepaar Willy und Adele Halberstam, Jahrgang 1866 und 1871, war das Heute entscheidend. Es bedeutete, dem Terror in Deutschland entkommen und als jüdische Flüchtlinge ganz legal im April 1939 in Amsterdam angekommen zu sein, wohin ihr Sohn Albert schon 1933 emigriert war. Anfang Juni bezogen sie eine Wohnung in der Jan van Eijkstraat in Amsterdam Zuid. Doch das sichere Exil in der Hauptstadt der Niederlande blieb für diese deutsch-jüdischen Flüchtlinge beschwert durch das Gestern – ein Leben als begüterte Geschäftsleute in Berlin, innig verbunden mit allem, was deutsche Kultur und Lebensart ausmachte.
Erhalten haben sich die Briefe der Halberstams an Tochter, Schwiegersohn und Enkelkinder, die ebenfalls im Frühjahr 1939 geflüchtet waren und in Chile Asyl fanden. Fünf Wochen nach ihrer Ankunft fasste Wilhelm Halberstam seinen Eindruck von den Menschen, die sie in ihr Land aufgenommen hatten, zusammen: »Die Psyche der Holländer ist von der meinen so himmelweit verschieden, dass ich nicht einmal die Leute begreifen kann, denen es hier gefällt.« Mitte Juni waren dem Flüchtling aus Deutschland die Holländer »weiterhin ein unerschöpfliches Studienobjekt, aber nicht immer studienwert«.
Willy Derby: der Schlagersänger kreiert 1939 den Hit »Morgen geht es besser, besser …«
Anders als vielen anderen war es den Halberstams auch noch gelungen, ihren gesamten Haushalt von Berlin nach Amsterdam zu expedieren. »Aber leider hat uns das Auspacken wenig Freude gemacht«, schrieb Adele Halberstam Mitte Juni an ihre Tochter.
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