Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
Glas und Porzellan waren zu Bruch gegangen, der Föhn fehlte, »die wundervollen alten Platten … Vatis braunes Samtjäckchen etc. etc. Wir sind sehr unzufrieden …« Trotz geräumiger Wohnung musste ein Teil der Möbel und Teppiche in den Keller wandern; an den Wänden hingen schwere Ölbilder Rahmen an Rahmen. Dennoch: »Von einem gepflegten Haushalt ist keine Rede, und Vati jammert über die Verwüstung der Möbel.«
Unterdessen verfolgte der Diktator in Berlin konsequent seine mörderischen Pläne, und nahm dafür auch politische Umwege in Kauf, die allen seinen bisherigen Aussagen widersprachen. Für Adolf Hitler heiligte der Zweck alle Mittel.
23. August 1939 – Das Deutsche Reich schließt mit der Sowjetunion, nach der Ideologie des Nationalsozialismus bisher das Reich des Bösen, einen Nicht-Angriffspakt. Jetzt wussten Europas Politiker: Hitler hat freie Hand für weitere Eroberungen im Osten, solange er Russland nicht angreift.
26. August – In Den Haag überreicht der deutsche Gesandte in Anwesenheit des niederländischen Außenministers Königin Wilhelmina eine Erklärung: darin verpflichtet sich Deutschland im Falle eines Krieges die Neutralität der Niederlande zu achten.
28. August – Zuerst hören es die Niederländer in den frühen Radio-Nachrichten: Zu den Waffen! Das gilt für alle Männer, die im Rahmen ihrer Wehrpflicht in der Armee gedient haben. Die Regierung hat eine allgemeine Mobilmachung angeordnet. In Amsterdam sind rund 30 000 Männer davon betroffen. Die Zeitschrift Panorama beruhigt ihre Leser: »Nichts spricht dafür, dass unser Gebiet oder unsere Neutralität in diesen unruhigen Zeiten bedroht ist.« Die Mobilmachung sei »nur Vorsorge für den kleinsten Zwischenfall, der unsere Neutralität in Gefahr bringen könnte«. Das spricht allen Niederländern, auch den verantwortlichen Politikern, aus dem Herzen.
29. August – Im Rijksmuseum in Amsterdam wird das berühmteste Bild, »Die Nachtwache« von Rembrandt, aus dem Rahmen genommen und eingerollt. Sollte wirklich der undenkbare Fall eines feindlichen Angriffs eintreffen, kann das nationale Heiligtum sofort an einen sicheren Ort evakuiert werden.
1. September – Das Deutsche Reich überfällt Polen, seinen östlichen Nachbarn. Danzig wird von See aus angegriffen, rund 1,5 Millionen Soldaten der deutschen Wehrmacht brechen über die Grenze in Polen ein. Deutschland hat den Zweiten Weltkrieg ausgelöst.
3. September – England und Frankreich erklären Deutschland gemäß ihrem Verteidigungs-Bündnis mit Polen den Krieg. Doch sie sind militärisch völlig unvorbereitet und können deshalb nicht in die Kämpfe eingreifen. Die 300 000 Soldaten vom niederländischen Heer werden an strategisch wichtige Plätze wie Flughäfen und an die Grenzen verlegt. Auch an die Küste, um zu demonstrieren, dass man gegenüber allen Nachbarn neutral ist – selbst gegenüber England. Das Rijksmuseum mit seinen nationalen Schätzen wird nun vollständig evakuiert und die unersetzlichen holländischen Meister auf Kirchen und Schulen in kleinen Dörfern über das ganze Land verteilt.
4. September – Im Parlament in Den Haag erklärt der Ministerpräsident, dass die Niederlande an ihrer strikten Neutralitätspolitik festhalten. Diese Neutralität sei entscheidend für das Gleichgewicht in Europa. Als ob das nicht längst von Hitler mit seiner aggressiven Politik zerstört worden war und nun erst recht durch den gewalttätigen Überfall auf den polnischen Nachbarn nicht mehr bestand. Als ob dieses eine Wort – Neutralität – wie ein Zauber eine unüberwindbare Mauer um das Land ziehen würde. Nach dieser Logik blieb Adolf Hitler für die niederländische Regierung auch in den folgenden Wochen und Monaten ein »befreundetes Staatsoberhaupt«. Die Presse wurde eindringlich gebeten, dem deutschen Reichskanzler keinen Vorwand mit Artikeln oder Karikaturen zu liefern – als ob man so den Diktator besänftigen könne, die Niederlande mit seiner Kriegspolitik zu verschonen.
19. September – Wie jedes Jahr eröffnet die Königin mit einer Rede das Parlament in Den Haag. Sie lobt das Zusammengehörigkeitsgefühl der Nation und bittet, mit der Regierung vertrauensvoll der Zukunft entgegenzusehen. Angesichts des Novums zweier sozialdemokratischer Minister auch dies ein historischer Augenblick im Rittersaal von Den Haag.
Seit dem 1. September hatten alle Amsterdamer Familienvorstände eine »Stammkarte« für die
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