Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
Polen hatte mit einem »Blitz-Sieg« im Osten geendet; würde der Diktator sich nun die westlichen Nachbarn vornehmen? Die brutale Logik der deutschen Politik unter Adolf Hitler sprach dafür, doch die Niederländer waren sich weiterhin durch alle Schichten, Parteien und Konfessionen einig: Mochte Europa in Flammen stehen – ihr Land würde verschont bleiben!
In den ersten Abenden nach Ausbruch des Krieges war Amsterdam bei Einbruch der Dunkelheit eine leere Stadt. Die Menschen blieben im Schutz ihrer Wohnungen. Aber das änderte sich schnell: »Nach ein paar Tagen ging das Leben wie üblich weiter: die Kinos waren voll, die Menschen gingen mit wachen Gesichtern durch die Straßen und jeder tat, als ob nichts besonderes geschehen wäre«, das schrieb Hendrik Jan Smeding, Geschichtslehrer an einem Amsterdamer Gymnasium, am 8. September in sein Tagebuch. Er hatte es bewusst Anfang September begonnen, um ein wenig von den aufgewühlten Zeiten im Wort festzuhalten.
Im Land herrschte Friede, egal wie zerbrechlich. Es war an der Zeit, sich um »die Jungs« zu kümmern, die glücklicherweise nicht kämpfen mussten. Aber die Mobilmachung hatte sie aus ihren Familien herausgerissen; in Kasernen, Schulen, Turnhallen und Kirchen stand ihr Feldbett. Überall im Land nähten Frauen ab dem Herbst 1939 für »unsere Jungs« Decken und Kissen, strickten Kniewärmer und Schals: »Mit Stricknadeln in der Hand dient man auch dem Vaterland«. Ein neuer Zweig der Unterhaltungsindustrie entstand. Komiker, Sänger und Schauspieler zogen in die Kasernen und gaben »Entspannungsabende«. Schlagerdichter texteten neue Lieder über das Soldatenleben, die aus allen Radios schallten und beim Marschieren flott über die Lippen gingen.
Besonders beliebt war die Geschichte vom »blonden Mientje« – eine Koseform von Wilhelmina –, die »ein Herz mit Stacheldraht« hatte. Gesungen wurde der Text nach der Marsch-Melodie eines Liedes, mit dem die deutschen Soldaten bevorzugt marschierten, ob in der Heimat oder im besetzten Polen: »Auf der Heide blüht ein kleines Blümelein, / und das heisst – Erika!« Und so klang es nach der »Erika-Melodie« durch Amsterdams Straßen, wenn die Jungs vorbeimarschierten: » Blonde Mientje heeft een hart met prikkeldraad, / Blijf maar thuis … prikkeldraad! …« (Blondes Mientje hat ein Herz mit Stacheldraht, / Bleibt ruhig Zuhaus … Stacheldraht! Denn diese Festung erobert kein Soldat. / Es ist und bleibt … Stacheldraht! … Vom Soldaten bis zum Sergeanten, Adjutanten, Leutenant, / alle sind total verknallt in das blonde Mientje … aber keiner hats zu einem Kuss gebracht …)
Zum Jahresende 1939 verdichteten sich die Gerüchte, dass Deutschland auch im Westen einen Krieg führen und die Niederlande nicht verschonen würde. Aber nichts dergleichen geschah, und man fühlte sich bestätigt in dem Glauben: bei uns nicht! Tatsächlich hatte Hitler schon am 23. Mai 1939 in Gesprächen mit seinen Militärs den Daumen in Richtung Niederlande gesenkt. Wenn es zu einer Offensive im Westen käme – und daran bestand schon vor dem Polenfeldzug für den deutschen Regierungschef kein Zweifel mehr –, dann würde die Wehrmacht »Holland und Belgien besetzen« müssen, um Frankreich zu schlagen und so die Basis für einen erfolgreichen Krieg gegen England zu haben.
Am 4. November traf Monne de Miranda nach fünfeinhalb Monaten im Sanatorium wieder in Amsterdam ein; nur langsam fand er sein seelisches Gleichgewicht wieder. An seine Frau hatte er geschrieben, er werde den Zug um 2 Uhr 16 nehmen und am Amstelbahnhof ankommen: »Da hoffe ich Dich zu finden. Zum Tee sind wir dann zuhause.« Zuhause warteten auch seine jüngsten Kinder, dreizehn und zwölf Jahre alt.
Zu Weihnachten 1939 bietet die Direktion des traditionsreichen Amstelhotels den Amsterdamern an, sie trotz der »Ereignisse im Ausland«, die zu »bedrückender Gemütsverfassung« geführt haben, für einige Stunden von ihren Sorgen zu befreien. Das Hotel lädt ein zu »einem fröhlichen und in kulinarischer Sicht hochstehendem Weihnachtsfest«.
Am 23. Dezember ist der festliche Saal im La Gaîté überfüllt. Rudolf Nelson war mit seiner Truppe den Sommer über im Kurhaus von Scheveningen aufgetreten, nun ist er wieder zurück im heimatlichen Amsterdam. Die Revue »Saison in Amsterdam« hat Premiere. Weil der Revue-Meister weiß, dass seine Fans verwöhnt sind, folgt am 14. Januar 1940 mit »Melodie und Mode« schon die nächste Premiere, fast
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