Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
Lebensmittelversorgung erhalten. Eine Regierungsabteilung tüftelte seit 1937 an einem gerechten Verteilungssystem von Nahrungsmitteln und Waren des täglichen Bedarfs für den Krisenfall. Was in den Jahren 1916 bis 1918 geschehen war, sollte sich nicht wiederholen: Die Niederländer hungerten, obwohl das Land vom Ersten Weltkrieg verschont geblieben war. Darum hatten die Amsterdamer dafür Verständnis, dass sie im Oktober 1939 gegen Vorzeigen der Stammkarte im städtischen Verteilungsbüro »Bonnen« (Bons/Bezugsscheine) für Zucker abholen mussten. Von nun an war Zucker rationiert und im Geschäft nur gegen Bons zu kaufen. Als zweites kamen im November Hülsenfrüchte »auf Bon«. Die Bezugsscheine hatten ein Verfallsdatum und mussten immer aufs Neue abgeholt werden. So konnte niemand Bons horten, um Hamsterkäufe zu tätigen. Und überhaupt – es war doch alles nur vorübergehend.
Auch der Luftschutzdienst in Amsterdam wurde aktiviert. Die Mitglieder, alles Freiwillige, waren für 200 öffentliche Luftschutzkeller in der Hauptstadt zuständig, in denen rund 35 000 Menschen Zuflucht finden sollten. 25 Kilometer Schläuche und 160 000 Gasmasken mussten griffbereit und in Schuss sein. Anhänger der Nationalsozialistischen Bewegung waren von diesem Ehrendienst ausgeschlossen.
Wenige Tage nach Kriegsbeginn, am 5. September, hatte sich der im Juni neu gewählte Amsterdamer Gemeinderat konstituiert und zu seiner ersten Sitzung versammelt. Erstmals seit 1911 saß Monne de Miranda nicht mehr im Rat. Die Sozialdemokraten, die drei Sitze verloren hatten, wählten eine Frau zur Fraktionsvorsitzenden: Alida de Jong, 1885 im Hinterzimmer einer Kellerwohnung im Amsterdamer Judenviertel geboren. Sie hatte eine für eine Frau ungewöhnliche Karriere in der SDAP und der Gewerkschaft gemacht.
Ihre Biografie hatte viele Ähnlichkeiten mit der ihres Parteigenossen Monne de Miranda. Auch sie musste früh Geld verdienen und wurde Kostümnäherin, obwohl sie so gerne auf der Schule geblieben wäre und den Beruf der Lehrerin ergriffen hätte. Mit zwanzig trat Alida de Jong einer Gewerkschaft, ein Jahr später der SDAP bei. Wie Monne de Miranda hatte sie den jüdischen Glauben ihres Elternhauses abgestreift, ohne ihre jüdischen Wurzeln zu verleugnen. Im Juli 1912 erhielt die Siebenundzwanzigjährige als erste Frau in den Niederlanden eine bezahlte Halbtagsstelle bei der Gewerkschaft. Sie kündigte ihre Arbeit in der Nähabteilung vom luxuriösen Warenhaus Bijenkorf am Dam, denn für sie war die Gewerkschaftsarbeit ein Fulltime-Job.
Alida de Jong heiratete nicht. An langen Polit-Abenden der Genossen hielt sie, einzige Frau unter Männern, durch, um ihre Vorstellungen in Partei und Gewerkschaft einzubringen. Sie war pragmatisch, ohne ihr Ideal aufzugeben: die Situation der Frauen in der Arbeiterklasse zu verbessern. Sie bildete sich selber unermüdlich weiter: las, ging ins Theater, in Konzerte, lernte Deutsch. Und forderte Ähnliches von ihren Genossen und Genossinnen: »Wir müssen fortwährend an der geistigen Bildung unserer Klasse arbeiten. Und damit meine ich gewiss nicht allein das männliche Element …«
Erst dreiundvierzigjährig verlässt sie die modrige Kellerwohnung der Familie im Judenviertel, wo sie ein Zimmer mit ihrer Schwester teilte, und zieht zusammen mit der Schwester nach Amsterdam Zuid. 1931 rückt sie ins Parlament nach, eine von 9 Frauen unter 100 Männern in Den Haag. Im Amsterdamer Gemeinderat sitzt Alida de Jong ab 1935. Sie war als Fraktionsvorsitzende eine gute Wahl für schwierige Zeiten.
Seit Ende August 1939 die Mobilmachung ausgerufen wurde, herrschten Unruhe und teilweise eine gereizte Stimmung in Amsterdam. Knapp 800 000 Menschen lebten an der Amstel, doch auf weniger Raum als heute. Amsterdam war eine volle Stadt, und die Mobilmachung beförderte noch die Enge. Rund 50 000 Häuser und 75 Schulen wurden für die Einquartierung der einberufenen Soldaten gebraucht. Der Hauptbahnhof war ständig überfüllt, ebenso Straßenbahnen, Taxis und Busse. Überall bildeten sich Menschenschlangen, schnell waren hitzige Debatten angestoßen.
Pazifisten wurden aktiv und blockierten die Eingänge zu den Mobilmachungsbüros oder suchten die eingezogenen Soldaten in ihren Quartieren auf. Polizei zog auf, versuchte die aufgebrachte Menge mit Worten zu beruhigen – manches Mal auch mit Pistolenschüssen in die Luft und gezogenem Säbel. Ausgangspunkt aller Diskussionen: Der deutsche Überfall auf
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