Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
Tag.
Louis de Jong war der Lieblingsneffe von Alida de Jong, der sozialdemokratischen Politikerin. Sie war stolz darauf, dass er – dessen Großeltern nie die ärmliche Wohnung im Judenviertel verlassen hatten – das Gymnasium besucht und Geschichte an der Universität Amsterdam studiert hatte. Louis de Jong wurde Redakteur beim linksliberalen Wochenblatt De Groene Amsterdammer. Zwei Tage nach dem Himmelfahrts-Ausflug erschien am 4. Mai 1940 eine Sondernummer vom Groene Amsterdammer, an der auch de Jong mitgearbeitet hatte. Im Eröffnungsartikel erklärte die Redaktion: »Besonders was die Niederlande betrifft, ist es unsere feste Überzeugung, dass kein äußerer Feind es wagen wird, unsere Unabhängigkeit zu beschädigen …«
Wer Glück hatte, besaß für den Abend von Himmelfahrt eine Karte für das Concertgebouw: Willem Mengelberg dirigierte Beethovens Neunte, die Ode an die Freude: »Alle Menschen werden Brüder …« Willem Mengelberg, der Star des Amsterdamer Musiklebens, hatte seit 1935 viel von seinem Nimbus verloren. Damals war er geschmeichelt, dass Orchester in Deutschland ihn zum Dirigieren einluden. Verständnislos reagierte er auf die Kritik, die sich in der Öffentlichkeit und im Gemeinderat von Amsterdam regte und von solchen Auftritten abriet. Der Faschismus vernichte Kunst und Kultur. Das konnte nach Mengelbergs Logik nicht sein, denn für ihn war Kunst unpolitisch und stand über allen Parteien und Rassen.
Als er 1937 mit dem Concertgebouw-Orchester, in dem viele jüdische Musiker spielten, nach Hitler-Deutschland fahren wollte, hatte ihm das Orchester die Gefolgschaft verweigert. Da fuhr der Maestro eben alleine, dirigierte in Berlin eine Vorstellung der NS -Organisation »Kraft durch Freude« und machte sich nichts daraus, wenn NS -Größen bei seinen Konzerten in brauner Uniform in der ersten Reihe saßen.
Irgendwann verstummte die Kritik. Immer noch konnte Willem Mengelberg sein Orchester und das Publikum für die Musik begeistern. Wer am 2. Mai 1940 eine Karte besaß, ging ins Concertgebouw. Und war es denn nicht eine Vision, an der man festhalten musste, den bedrohlichen politischen Umständen zum Trotz – »Alle Menschen werden Brüder …«
Der folgende Donnerstag, 9. Mai 1940, war ein strahlender, warmer Tag mit wolkenlosem blauem Himmel. Die Amsterdamer fuhren am Morgen mit dem Fahrrad in die Büros, ins Geschäft und nach getaner Arbeit schnell zurück, denn es lockte ein lauer Abend auf dem Balkon oder einer Café-Terrasse mit einem Bier oder einem kopje koffie, und vielleicht noch ein Spaziergang die Gracht entlang. Ein halbes Jahr später, im Oktober, hat der Vizepräsident des Staats-Rates und ein wichtiger Berater von Königin Wilhelmina, sich in Erinnerung gerufen, in welcher Stimmung seine Landsleute an jenem Abend zu Bett gingen: »Waren die Abendzeitungen nicht, wie stets, frei von alarmierenden Berichten? Kein Grund also, sich zu fürchten oder sich Sorgen zu machen. Niederland, geliebtes Niederland, bleibe eine Insel des Friedens … Das muss einer der letzten Gedanken von Tausenden von Niederländern gewesen sein, als sie in dieser besonders klaren Sternennacht des 9. Mai in den Schlaf fielen.«
IV
5-Tage-Krieg – Selbstmord und Flucht übers Meer – Kapitulation – Die deutschen Besatzer: sehr korrekt – Der Bürgermeister: passt sich an – Hoffnung auf Ruhe und Ordnung
10. bis 31. Mai 1940
Freitagmorgen gegen 4 Uhr, es war der 10. Mai 1940, wurde das Ehepaar de Jong, das an der westlichen Seite des Vondelparks wohnte, durch ein dumpfes Dröhnen aus dem Schlaf gerissen. Louis de Jong lief in den Vorraum, wo er durch das Fenster in Richtung Flughafen Schiphol Rauchwolken aufsteigen sah. Er rannte zurück: »Es ist Krieg.« – »Das dachte ich mir,« sagte seine Frau.
Im zwölfstöckigen »Wolkenkratzer« von Amsterdam Zuid schlief das Ehepaar Romein-Verschoor in seinem Zimmer oberhalb der Familien-Wohnung. Es war noch nicht ganz hell, als die Kinder die Treppe zu den Eltern hochliefen: »›Es geht los! Schiphol steht in Flammen!‹ Ich versuchte, Jan, der fest schlief, wach zu bekommen«, schreibt die Schriftstellerin Annie Romein-Verschoor in ihren Erinnerungen an den frühen Morgen des 10. Mai über den Ehemann. »Wie abwesend murmelte er etwas von ›Unsinn‹ und schlief weiter.« Die Mutter geht mit den Kindern auf das Dach des ersten Hochhauses von Amsterdam, 1932 gebaut. Sie starren auf den Rauch und die Flammen am Horizont. Sie hören den
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