Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
willkürlich NSB -Mitglieder. Fast 10 000 Männer, Frauen und Kinder landeten in diesen Maitagen auf Amsterdams Polizeiwachen als »Vaterlandsverräter«. Von ihnen wurden rund 6000 interniert, zum Teil unter menschenunwürdigen Umständen: ohne Medikamente, in überfüllten Schuppen und Markthallen, ständig von Gewehrläufen bedroht.
Auf den zweiten Blick standen die jüdischen Flüchtlinge aus Deutschland unter Verdacht. Waren sie nicht zuerst Deutsche und zudem erpressbar, wenn sie ihren ehemaligen Landsleuten in die Hände fielen? Mit dem 10. Mai erging die Anordnung, dass jüdische Flüchtlinge und andere Deutsche vorläufig ihre Wohnungen nicht verlassen durften. Die vierunddreißigjährige Grete Weil und ihr Mann akzeptieren das Verbot gerne, denn sie wollen sich »auf jeden Fall loyal gegenüber Holland verhalten«.
Zum Wesen der 5. Kolonne gehörte das heimliche Wirken, die Verschwörungen unter der Maske des netten Nachbarn, des Biedermanns. Die Gerüchte über »den Feind im Innern« wucherten ins Maßlose. Louis de Jong, dem ein fremder Mann auf der Straße zurief, das Trinkwasser werde vergiftet, rannte sofort in panischer Angst nach Hause, um die Badewanne randvoll mit Wasser laufen zu lassen. Es wurde gewarnt vor vergifteter Schokolade, vergifteten Bonbons und Pralinen. Im Zoo wurden die Giftschlangen getötet; nicht auszudenken, was der innere Feind mit ihnen anrichten konnte. In Amsterdam brach das Kontrollfieber aus, vor allem gegenüber Ausländern.
Bürgerwacht, Polizei, sogar die Freiwilligen vom Luftschutz in ihren blauen Overalls hielten in den Straßen, auf den Plätzen und in den Parks Fußgänger und Autofahrer an, um herauszufinden, ob es wirklich Niederländer waren. Gar nicht so einfach, denn es gab keine Personalausweise. Als letzten Test musste der oder die Verdächtigte das Wort »Scheveningen« aussprechen, hals- und zungenbrecherisch für jeden, der nicht mit Niederländisch als Muttersprache aufgewachsen ist. Die einen erzählten von deutschen Fallschirmspringern, die sich in Amsterdams Kirchtürmen versteckten; andere hatten sie, als Geistliche verkleidet, durch die Straßen der Hauptstadt laufen sehen. Nervöse niederländische Soldaten schossen wild in die Luft.
Bald fühlte sich auch der sechsundzwanzigjährige Louis de Jong als Redakteur einer links-liberalen Zeitschrift nicht mehr sicher vor einem Überfall der 5. Kolonne und beschloss, die Nacht vom Montag auf Dienstag mit seiner schwangeren Frau bei Freunden zu verbringen. Am Dienstagabend saßen sie um das Radio, hörten den Schweizer Sender Beromünster und erfuhren, dass Königin Wilhelmina das Land verlassen hatte und in London angekommen war.
Am frühen Montagmorgen, es war der 13. Mai 1940, hatte der Ministerrat der Königin dringend geraten, sich vor den deutschen Truppen in Sicherheit zu bringen. Die Historiker haben es Jahre später klar ausgesprochen: Das Kommuniqué am allerersten Kriegstag, das im Radio über die niederländische Kriegsführung verlesen wurde, war nichts als Zweckoptimismus. In Wahrheit hatten deutsche Soldaten und Fallschirmspringer sofort nach dem Überfall alle strategisch wichtigen Brücken um die größten niederländischen Städte sowie die Flugplätze besetzt und waren im Zangengriff im Norden und Süden weit ins Land vorgedrungen. Die niederländische Armee hatte dem militärischen Material und der Entschlossenheit des Feindes nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen.
Nach drei Tagen Krieg herrschten bei der überfallenen Armee Chaos und Panik. Der Oberkommandierende erklärte den Ministern und der Königin, der totale militärische Zusammenbruch sei nur noch wenige Stunden aufzuschieben. Eines stand für Wilhelmina außer Zweifel: Niemals wollte sie Hitlers Gefangene werden. Ihre Tochter, Prinzessin Juliana, und Prinz Bernhard waren mit ihren zwei kleinen Töchtern schon am Sonntag im Hafen von IJ muiden an Bord eines britischen Kriegsschiffes gegangen.
Königin Wilhelmina verließ am Montagmorgen gegen 10 Uhr mit einem kleinen Reisekoffer ihre Residenz Noordeinde in Den Haag, und fuhr mit wenigen Begleitern im Auto nach Hoek van Holland. Dort wurde dem verdutzten Kapitän eines britischen Zerstörers mitgeteilt, am Kai stehe Hollands Königin, die er bitte aufnehmen und in Sicherheit bringen solle. Das Schiff landete mittags in Harwich. Ein Zug brachte Wilhelmina nach London zur Liverpool Street Station, wo Juliane und Bernhard auf sie warteten. Auch König Georg VI .
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