Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
gelernte Dolmetscherin und Sekretärin beim Komitee für jüdische Flüchtlinge arbeitete, in die Kalverstraat, »um ein Lederetui zu kaufen, in dem man Geld und Papiere auf der Brust tragen konnte«. Die Straße war leer, der Himmel blau, die Luft angenehm warm, es blühten die Kastanien: »Man konnte sich im Traum nicht vorstellen, dass wirklich Krieg war.« Doch wenige Stunden später kam sie dieser Vorstellung schon näher: »Abends saßen wir in einem verdunkelten Zimmer. Zum ersten Mal.« Es war trostlos. Dann rief auch noch einer vom Luftschutz an, der Streife ging, und sagte, »es sei immer noch Licht zu sehen«. Resigniert schaltete Familie Levie das Licht aus und ging zu Bett. Mirjam Levie nahm sich vor, die Ereignisse dieser Tage weiterhin in Briefen an ihren Verlobten festzuhalten.
Louis de Jong radelte am Morgen auf schnellstem Weg in die Redaktion vom Groene Amsterdammer. Der Sechsundzwanzigjährige verfasste umgehend einen neuen Leitartikel: »Tief in unserm Herzen konnten wir Niederländer uns die abscheuliche charakterliche Niedertracht nicht vorstellen … unser Land mit kühlem Blut zu überfallen … Das demokratische Königreich der Niederlande wird unter dem Angriff des Feindes nicht zusammenbrechen.« Dann fuhr er zu seiner Sammelstelle des Luftschutzdienstes, wo er als Freiwilliger für einige Stunden eingesetzt wurde. Am Abend schrieb de Jong eine Karte an seine Schwiegereltern in Den Haag: »Es ist wunderbar, verheiratet zu sein, nicht allein zu stehen in dieser Zeit und Freud und Leid teilen zu können.« Sein politisches Fazit ist optimistisch: »Wie alles endet, wissen wir nicht. Ob unter deutscher Oberherrschaft, oder ob es einen langen Kampf gibt. Lieber das letztere. Vertrauen wir unserem Heer und den Verbündeten, so dass wir in absehbarer Zeit wieder in Ruhe nach Den Haag kommen können.«
Im Radio wurde an diesem Abend der Tagesbefehl des Oberkommandierenden der niederländischen Streitkräfte verlesen: Königin Wilhelmina sei »hoch zufrieden« mit dem Auftreten der Streitkräfte, und der Überfall des Feindes könne aufgrund der Wehrhaftigkeit von Armee, Marine und Luftwaffe »als missglückt« bezeichnet werden. In allen Teilen des Landes hielten »unsere Truppen« dem Feind »verbissen stand« oder traten ihm »unverzagt und mit Erfolg« entgegen. Mit diesen ermutigenden Informationen konnten die Niederländer sich am Ende des ersten Kriegstages dem Schlaf überlassen, wenn auch mit dem Bewusstsein, dass ihre heile Welt einen tiefen Riss bekommen hatte.
In Amsterdam heulten am nächsten Morgen, es war Samstag, der 11. Mai 1940, um 5 Uhr früh die Sirenen. »Es ist, als wimmerte die Stadt«, schrieb Mirjam Levie. »Wir standen auf und stellten uns mit einem Köfferchen in der Hand in den Flur.« Deutsche Bomber flogen in Richtung Amsterdam. Gegen elf Uhr schien alles glücklich überstanden. Da schaut die Dreiundzwanzigjährige zufällig aus dem Schlafzimmerfenster: »Ein Flugzeug näherte sich und ich sah, wie eine Bombe fiel … Das Heulen dieser Bombe war unbeschreiblich.« Die Bombe explodierte in einem Häuserkomplex an der Ecke Blauwburgwal/Herengracht, nicht weit vom Zentrum im westlichen Teil der Stadt, 44 Menschen starben unter den Trümmern, dutzende wurden verwundet. Weil im Radio permanent die Anflugrichtung der feindlichen deutschen Flugzeuge gemeldet wurde, hatte der Oberrabbiner von Amsterdam angeordnet, dass den orthodoxen Juden an diesem Samstag das Radiohören – sonst wegen der Schabbatruhe verboten – erlaubt sei.
Der äußere Feind, der gewaltsam über die Grenzen in das Land einfiel mit Soldaten und Panzern und seine Flugzeuge schickte, war sichtbar und bekämpfbar. Doch der innere Feind war heimtückisch und nur schwer zu entlarven. Als »5. Kolonne« stellte man sich Niederländer vor, auch Spione, die ein Interesse hatten, mit den Deutschen gemeinsame Sache zu machen. Außerdem deutsche Soldaten, die jetzt unbemerkt ins Land kamen und Sabotage betrieben. In Amsterdam brach Panik aus.
Als Hauptverdächtigte unter den eigenen Landsleuten kamen Hollands Nationalsozialisten ins Visier. So klein und verhasst die NSB war, sie hatte in den letzten Jahren immer eindeutiger der aggressiven Außenpolitik und dem menschenverachtenden Antisemitismus Hitler-Deutschlands applaudiert. Ein Sieg der deutschen Nationalsozialisten wäre ein Triumph für die NSB . Nicht nur die Polizisten, auch Freiwillige von Luftschutzdienst und Bürgerwacht verhafteten
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