Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
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Abel Herzberg stieß die Fenster auf, dann lief er zur nächsten Apotheke, wo sich noch ein Telefon befand, um einen Krankenwagen zu rufen. Es dauerte lange, über eine Stunde. »Später am Tag habe ich begriffen, warum.« Amsterdams Krankenhäuser und Notdienste waren überlastet, weil Menschen »nicht mit der neuen Zeit gehen wollten, sondern lieber der alten, die gerade gestorben war, nachfolgten«. Fast dreihundert Menschen haben nach Bekanntmachung der Kapitulation der Niederlande allein in Amsterdam Selbstmord begangen. Die meisten von ihnen waren Juden, jüdische Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich, aber ebenso jüdische Niederländer. Im Sterberegister auf dem Standesamt von Amsterdam ist der Tod ganzer Familien eingetragen; bei manchen die Todesursache – Gift, Gas, Erhängen, Morphium, Veronal.
Am Dienstag, während Rotterdam bombardiert wurde, hatte Willem de Vlugt, seit 1921 Amsterdamer Bürgermeister, seine Beigeordneten ins Rathaus gerufen. Er begann die Sitzung mit einem Gebet, dann eröffnete er seinen Mitarbeitern, sie müssten entscheiden, ob die Hauptstadt kapitulieren oder weiterkämpfen wolle, was eine Bombardierung wie in Rotterdam bedeuten würde. Das Kollegium beschloss einstimmig, zu kapitulieren und im Amt zu bleiben. Außerdem sollten die städtischen Angestellten bis auf weiteres keinen Urlaub beantragen dürfen und die Extra-Zahlungen für Überstunden würden entfallen.
Im Nachhinein erinnerten sich die Kollegen, dass der Sozialdemokrat Dr. Emanuel Boekman, seit 1931 Beigeordneter für Kultur und Bildung in der Hauptstadt, sichtbar nervös war. Während der Sitzung wischte er sich mehrfach den Schweiß von der Stirn. Der einundfünzigjährige Amsterdamer Jude sagte seinen Kollegen, er wolle mit seiner Frau nach England flüchten. Nur sieben Tage zuvor war die Hochzeit seiner Tochter gefeiert worden, an der auch Boekmans Freund Monne de Miranda und seine Frau teilgenommen hatten. Die Boekmans gehörten zu den Tausenden von Flüchtlingen, deren Flucht misslang. In der Nacht vom 14. auf den 15. Mai wählten sie in Amsterdam den Tod.
Einer der nichtjüdischen Amsterdamer, die Selbstmord begingen, war Professor Willem Adriaan Bonger, der an der Amsterdamer Universität am ersten niederländischen Lehrstuhl für Soziologie und Kriminologie lehrte. Dem überzeugten Sozialdemokraten muss Ähnliches durch den Kopf gegangen sein wie Annie Romein-Verschoor und ihrem Mann: Die Sieger werden Rache an »den Roten« nehmen, vor keiner Demütigung zurückschrecken. Einem Parteigenossen sagte der Vierundsechzigjährige: »Mich werden sie nicht lebend finden.« Er starb am 15. Mai von eigener Hand.
Zur gleichen Zeit versuchten viele Amsterdamer, Spuren zu beseitigen, die sie in den Augen der Sieger – oder der einheimischen Nationalsozialisten – verdächtig machen konnten. Obwohl es warme Frühlingstage waren, begann ab dem 14. Mai aus vielen Schornsteinen der Hauptstadt Rauch aufzusteigen. Bücher, Briefe, Unterlagen wurden hastig verbrannt, glücklich, wer noch einen Ofen hatte. Grete Weil, deren Wohnung Zentralheizung besaß, verbrannte nach der missglückten Flucht Briefe ihrer antifaschistischen Bekannten, darunter Klaus Mann, und linke Zeitschriften in einem Blecheimer. Ebenfalls am Mittwoch zerrissen Annie Romein-Verschoor und ihr Mann Jan stundenlang Bücher und Tagebücher. Hinter ihrem Hochhaus legten Menschen im Sand kleine Feuer zum Verbrennen an, und die nahe Amstel war weiß von Papier. In den Grachten der Innenstadt landeten Kisten voller Bücher; manches verschwand in tiefen Löchern im Garten.
Den Männern, die in Amsterdam bislang oberste Verantwortung trugen, lag daran, den Übergang der Macht an die Sieger, die nun zu Besatzern wurden, ordentlich über die Bühne zu bringen. Nachdem am Dienstagabend im Radio die Kapitulation angekündigt war, befahl der Amsterdamer Garnisonskommandant: »Die Polizei muss äußerst korrekt auftreten. Wenn Besatzungstruppen einmarschieren, ist die Handhabung der Ordnung auf vorbildliche Weise oberstes Gebot.« Die internierten niederländischen Nationalsozialisten konnten die Schuppen und Markthallen verlassen. Die Bewacher vor den NSB -Büros wurden abgezogen.
15. Mai 1940 – Nach vier Tagen endete der Krieg, den die Deutschen begonnen hatten, am frühen Morgen mit der offiziellen Kapitulation der Niederlande. 2067 niederländische Soldaten waren gefallen, 2559 Zivilisten an den Kriegsfolgen gestorben. Eine deutsche
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