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Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)

Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)

Titel: Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Beuys
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Romein-Verschoor machten sich am frühen Nachmittag des 14. Mai in Amsterdam Zuid auf, um in IJ muiden ein rettendes Schiff zu erreichen. Den Ausschlag für die Flucht gab die Nachricht, dass deutsche Bomber einen Angriff auf Rotterdam geflogen hatten: Die Innenstadt lag in Trümmern und brannte, fast 900 Menschen verloren ihr Leben und knapp 80   000 wurden obdachlos. Für das engagierte links-intellektuelle Ehepaar war damit entschieden: Die Deutschen würden in Kürze das Land als Sieger besetzen.
    Zusammen mit der Tochter holten die Eltern ihre zwei Söhne, die protestierend die blauen Overalls auszogen, vom Luftschutzposten ab. Ein Taxi brachte sie nach Santpoort, wo Bruder und Schwägerin von Annie Romein-Verschoor wohnten. Hier bekamen das Ehepaar und die drei Kinder Fahrräder. Gegen einen scharfen Wind radelten sie in Richtung IJ muiden. Blickten sie zurück, sahen sie schwarze Rauchwolken über Amsterdam. Experten hatten die Shell-Raffinerie am Hafen in Brand gesetzt, damit die Ölvorräte nicht dem deutschen Militär in die Hände fielen.
    Auf ihrer Fahrt erlebten sie ähnliches wie die Familie de Jong: Die Straßen wurden immer voller von Menschen und Autos. In der Menge, die sich staute, ein Wiedersehen mit Bekannten aus dem Universitätsmilieu. Endlose Verhandlungen mit Polizisten, die plötzlich den Weg versperrten und dann, ohne weitere Erklärung, die Durchfahrt frei gaben. Schnell bis zum Fischerhafen und mit vielen anderen Flüchtenden auf einen Trawler, von dem es hieß, er werde bald auslaufen.
    Und dann die gleiche Geschichte, die das Ehepaar Weil erlebte. Es erschienen wenig vertrauensvoll aussehende Gestalten, erzählten von Bootsleuten, die erst noch kommen müssten und begannen, über den Preis für die Überfahrt zu feilschen. Gegen elf Uhr nachts verließen die Romein-Verschoors das Schiff, und mit den Rädern ging es zurück nach Santpoort. Die Kinder blieben bei Onkel und Tante, die Eltern fuhren zu den nahe gelegenen Dünen, setzten sich in den Sand und versuchten, mit kühlem Kopf nachzudenken, was zu tun sei.
    Das Ehepaar befürchtete, die niederländischen Nationalsozialisten würden unter dem Schutz der deutschen Besatzer sofort gegen »die Roten« vorgehen, zu denen sie beide aufgrund ihrer Artikel, Bücher und ihrer Überzeugung zweifellos gehörten. Die Kinder sollten sich deshalb bis auf weiteres bei den Großeltern in Den Haag aufhalten. Die andere Entscheidung: »Ohne viele Worte waren wir uns einig, dass wir nicht in den Selbstmord flüchten wollen.«
    Am nächsten Tag nahmen die beiden den Zug nach Amsterdam. In der Wohnung fiel Annie Romein-Verschoor todmüde auf ihr Bett. Nur Augenblicke später hörte sie das Dröhnen von Soldatenstiefeln auf der Straße und ein lautes Gejuchze. »Da geht es schon los! Ich schob die Gardine zur Seite: Es waren holländische Soldaten, die nach Hause zurückkehrten.« Es war Mittwoch, der 15. Mai 1940.
    Selbstmord begehen, statt dem Feind, dem Sieger in die Hände zu fallen? In der Nacht von Dienstag auf Mittwoch hatte Abel Herzberg, Rechtsanwalt, in Amsterdam Zuid Luftschutzdienst. Gegen Abend hörte er mit seinen Kameraden im Wachlokal im Radio von der Kapitulation. Als um Mitternacht das »Wilhelmus«, die niederländische Nationalhymne, erklang – wohl auf unabsehbare Zeit zum letzten Mal –, weinten einige der Helfer. Jetzt war es vier Uhr morgens, Herzberg stand in seinem blauen Luftschutzoverall auf einem Platz der Stadt und überlegte, wie es mit seinem Luftschutzdienst weitergehen würde. Da sah er gegenüber auf der Straße ein Dienstmädchen laufen, unordentlich gekleidet, mit offenen Haaren. Sie kam auf ihn zu und bat ihn unter Tränen mitzukommen, schnell, schnell.
    Sie führte ihn eine steile Treppe hinauf, in eine muffige Wohnung, wo offenbar alle Räume untervermietet waren. Eine Zimmertür stand offen. »Es hing ein unerträglicher Gestank in der Luft … Ich begriff, dass ich mich in einer Pension für jüdische Flüchtlinge aus Deutschland befand. Vier Tage hatten sie ihre Wohnung nicht verlassen dürfen. Ich ging in das Zimmer.« Die schweren Gardinen waren zugezogen, an der Decke brannte ein Licht. Auf einem Doppelbett »lag ein Mann, regungslos, mit offenem Mund, und neben ihm lag eine dicke, halbnackte Frau … Sie stöhnte leise und erbärmlich, als ob sie schreckliche Schmerzen hatte. Auch sie bewegte sich nicht mehr«. Das Mädchen schluchzte: »Mein Herr hat immer gesagt, ein zweites Mal würde er das nicht

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