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Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)

Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)

Titel: Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Beuys
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begrüßte den hohen Gast, und bot der Königin im Buckingham Palace ein vorläufiges Quartier an.
    Wilhelmina betrat englischen Boden nicht als Privatperson, sondern als Repräsentantin der Niederlande. Der Handschlag mit dem britischen König besiegelte ohne weitere politische Erklärungen die Bundesgenossenschaft zwischen Großbritannien und den Niederlanden im Kampf gegen das Deutsche Reich. Der Mythos vom kleinen Land, das dank seiner Neutralität eine Insel des Friedens bleiben konnte, während ringsum ein europäischer Krieg wütete, hatte ausgedient. Noch in der gleichen Nacht, vom 13. auf den 14. Mai 1940, verließen alle niederländischen Minister den Regierungssitz Den Haag und schifften sich ebenfalls auf britischen Kriegsschiffen nach England ein.
    Ungläubig hörten die Niederländer von der Flucht ihrer Königin. Dass Wilhelmina ihr Land in der Stunde extremer Gefahr im Stich ließ – unvorstellbar. Es passte weder zu ihrer Persönlichkeit noch zu ihrer Funktion: Das Haus Oranien verkörperte die nationale Identität, einte die Niederländer über alle politischen, konfessionellen und weltanschaulichen Unterschiede. Um die Mittagszeit hatte sich auf dem Nieuwmarkt in Amsterdam eine aufgeregt diskutierende Menge versammelt. Pfarrer Dijkstra von der Oude Kerk versuchte sie zu trösten. Als er den Weggang der Königin verteidigte, brachen die Menschen ringsum in Hohngelächter und Empörung aus.
    Die Nachricht aus London riss die Niederländer aus einer Sicherheit, an die sie sich seit dem Freitagmorgen geklammert hatten. Am Dienstagmorgen schreibt Mirjam Levie: »Aus den Nachrichten wussten wir zu diesem Zeitpunkt bereits, dass alles verloren war … Ich sah ständig die Soldaten vor mir, die zerfetzt wurden, und wofür … Es war doch sowieso alles verloren. Irgendwie waren übrigens alle fertig mit den Nerven.« Dann erscheint Nachbar de Groot bei den Levies. Er hat sich angesichts der erschreckenden Nachrichten entschlossen, das Land auf schnellstmöglichem Weg zu verlassen: »In IJ muiden lägen Fischerboote, die zwar heftig bombardiert würden, aber es sei wenigstens eine Chance«, ob sie nicht mitkommen wollten.
    Als der Nachbar zur Türe hinaus war, folgte nach Mirjam Levies eigenen Worten ein »Drama«: »Ich war völlig außer mir und flehte Vater und Mutter an, es zu versuchen.« Die aber beharrten darauf, dass nur ihre Kinder flüchten sollten. Dann mischten sich zwei Onkel ein, die zu Besuch waren und die Großmutter, die »jammerte, man würde sie im Stich lassen. Es war ein unbeschreibliches Geheule. Die Familie de Groot fuhr weg, aber wir passten nicht mehr ins Auto. Also fuhren wir nicht.« Ein Drama, in dem sich untergründige Ängste und Ahnungen spiegelten. Die Mitglieder der Familie Levie waren jüdische Niederländer.
    Auch Louis de Jongs jüdische Familie lebte seit Generationen in den Niederlanden. »Dienstag brach bei mir ein wachsendes Gefühl von Angst aus«, schreibt er in seinen Erinnerungen. »Nur wenig später wurde Panik daraus … Ich schlug Liesbeth vor, dass wir nach England gehen sollten.« Man brauchte keine höhere Bildung zu haben wie das Ehepaar de Jong und die diplomierte Dolmetscherin Mirjam Levie, um zu wissen, wie es den Juden in Deutschland seit 1933 unter der NS -Herrschaft erging. Die niederländischen Zeitungen hatten ausführlich über den staatlichen Antisemitismus informiert und auch über die Verfolgung überzeugter Demokraten. Mit der Königin außer Landes und offensichtlich kurz vor dem Sieg der deutschen Truppen fühlten sich niederländische Juden, deutsch-jüdische Flüchtlinge, linke Intellektuelle, Politiker und Künstler an diesem 14. Mai 1940 in Amsterdam wie in der Falle. Es gab nur noch eine Möglichkeit, dem Machtbereich der anrückenden deutschen Nationalsozialisten zu entkommen: vom Hafen IJ muiden am Ausgang des Nordseekanals über das Meer nach England. Und Tausende machten sich auf den Weg.
    Louis de Jong fragt seine Eltern, ob sie mit nach England gehen wollen? Ja, und natürlich mit seiner zehnjährigen Schwester Jeannette. Dann fliegt er mit dem Fahrrad nach Amsterdam Zuid zu seiner Tante Alida de Jong. Als Vorstandsmitglied der Näherinnen-Gewerkschaft und Fraktionsvorsitzende der Sozialdemokraten im Amsterdamer Gemeinderat ist ihr Leben unter deutscher Besatzung in Gefahr. Doch die Fünfundfünzigjährige schüttelt den Kopf, als unerwartet ihr Lieblingsneffe erscheint und sie dringend bittet, mitzukommen. »Das würden meine

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