Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
Wissenschaft ruft die Schulen auf, nach den Pfingstferien den Unterricht »im Geist der Niederlande« wieder aufzunehmen, aber auch strikt alle Pflichten gegenüber den Besatzern wahrzunehmen.
Der Generalsekretär im Justizministerium notiert, dass es gut wäre, wenn die rund 80 000 Juden in Amsterdam sich ruhig verhalten würden. Sollten sie sich »nach bekannter Manier« wieder in die Öffentlichkeit drängen, »soll man dem Oberrabbiner nahelegen, den Juden in ihrem eigenen Interesse anzuraten, sich so wenig wie möglich öffentlich in den Vordergrund zu stellen«. Da ist er, der »sanfte niederländische Antisemitismus«, der dennoch nicht in Abrede stellte, dass die jüdischen Niederländer ihren festen Platz in der Gesellschaft haben.
In Amsterdam sprachen die Beigeordneten und der Bürgermeister – ehrlich um die jüdischen Bürger besorgt – die Sieger sogleich auf die Situation der Amsterdamer Juden unter der deutschen Besatzung an. »Wenn sie uns nicht sehen, sehen wir sie auch nicht«, lautete die knappe Antwort. In Den Haag hatte ein deutscher Offizier dem Bürgermeister einen Tag nach der Kapitulation erklärt: »Für die Deutschen gibt es in den Niederlanden keine Judenfrage.« Zwar wurde der Leiter des niederländischen Nachrichtenbüros in Amsterdam einen Tag nach der Kapitulation aufgefordert, alle dreiundzwanzig jüdischen Mitarbeiter zu entlassen. Das geschah. Zwar wurde in der Hauptstadt rund ein Dutzend jüdischer Flüchtlinge von der deutschen Polizei in aller Stille verhaftet. Aber das blieb die Ausnahme.
Für die Juden in Amsterdam ging das Leben wie gewohnt weiter. Der Bürgermeister bat führende Männer der jüdischen Gemeinden ins Rathaus und berichtete, die deutschen Militärbefehlshaber hätten ihm versichert, dass man die Juden in den Niederlanden unbehelligt lassen werde. Annie Romein-Verschoor und ihr Mann fragten Freunde und Bekannte, wie sie die Zukunft sahen – die Juden waren am optimistischsten. Noch bevor der Monat Mai um war, eröffnete das Theater Carré mit einem neuen Varieté-Programm. Im Mittelpunkt der Revue stand Henriette – »Heintje« – Davids, Schauspielerin, Sängerin, Komikerin und Schwester des unvergessenen Louis Davids. In ihren Erinnerungen erzählt sie, dass eines Abends in der ersten Reihe deutsche Polizisten saßen, die in der Pause vor der niederländischen Jüdin die Hacken zusammenschlugen und ihr dicke Komplimente machten.
Der Bürgermeister von Den Haag fünf Tage nach der Kapitulation: »Wir müssen ritterlich anerkennen, dass die Haltung der deutschen Besatzer vollkommen korrekt ist, keine einzige Plünderung, keine Entgleisung der Sieger.« Das Gleiche gilt für Amsterdam: Die Tagebücher und Briefe waren offensichtlich umsonst zerrissen, die Bücher grundlos in die Grachten und Kanäle gekippt. Keine Wohnung wurde von den Besatzern gestürmt, keine Synagoge geschlossen, niemand auf der Straße belästigt oder gar verhaftet.
Nicht wilde Horden hatten die Niederlande überfallen, sondern höfliche uniformierte Männer, die sich mit den Amsterdamern im Zoo amüsierten, bescheiden auf den Café-Terrassen ihr kopje koffee tranken oder sich beim Eismann am Dam in die Schlange stellten. Auch wenn jetzt deutsche Soldaten und deutsche Polizisten das Straßenbild prägten, und immer mehr deutschsprachige Wegweiser auftauchten. Die Spannung wich, die Hoffnung auf Normalität des Alltags stieg mit jedem Tag.
20. Mai – In Amsterdam öffnet die Börse wieder. Die Direktion der Niederländischen Eisenbahnen, Sitz in der Hauptstadt, schreibt an das Personal: »Wir spannen in loyaler Zusammenarbeit mit den deutschen Autoritäten alle Kräfte an, damit der Betrieb der Niederländischen Eisenbahnen auf dem gesamten Streckennetz wieder so schnell wie möglich funktioniert.« Fast 33 000 Menschen haben bei der Bahn Arbeit. Man war eine große Familie, sozial gut abgesichert. Es blieb alles beim Alten, niemand wurde entlassen. Nur dass die Deutschen jetzt die Oberaufsicht hatten und die niederländische Bahn alle Transporte für die deutsche Wehrmacht, die Polizei, die SS ausführen würde. Aber schließlich hatte man den Krieg verloren. Und auch aus London kamen an diesem Mai-Tag ermunternde Worte, sich den Realitäten anzupassen.
Der Ministerpräsident im Exil schickte eine Botschaft an das niederländische Volk. Zuerst werden »die Verwaltungsinstanzen« angesprochen: »Es ist ihre Pflicht, so gut sie können mit den deutschen Befehlshabern
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