Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
keine »Vorabzensur«. Man werde die niederländischen Zeitungen und Zeitschriften in ihren Aktivitäten nicht einschränken – solange eine Berichterstattung gemacht würde, die nicht im Gegensatz zu den deutschen Interessen stünde: »Diese entgegenkommende Haltung setzt natürlich eine absolut loyale Haltung von Herausgebern und Redakteuren voraus.« Und so geschah es. Die 710 Tages- und Wochenzeitungen wollten erscheinen, das lag doch im Interesse der Niederländer. Ab sofort schrieb man in den Redaktionen die Artikel mit der Schere im Kopf, übervorsichtig, kritiklos und nicht selten den Wünschen der Besatzer vorauseilend.
Auch die Übernahme des Radios war von den Besatzern sorgfältig vorbereitet. Minister Goebbels wusste, dass die Medien das wichtigste Mittel im Kampf um die öffentliche Meinung waren. Schon im Januar 1940 waren im deutschen Heer »Propagandastaffeln« mit Technikern und Journalisten für die Niederlande aufgestellt und geschult worden. In Hilversum, wo sich die Studios der holländischen Rundfunkgesellschaften befanden, fragten sich Mitarbeiter der deutschen Propagandastaffel am Mittag des 15. Mai zum Sendehaus der AVRO , der größten Rundfunkgesellschaft durch, die nicht konfessionell gebunden, sondern weltanschaulich neutral war. Der Geschäftsführer wartete schon. Im Auto hatten die deutschen Experten vollständige Studio-Anlagen, überzeugt, dass die Niederländer ihre Studios für den Feind unbrauchbar gemacht hätten.
Aber nein, alle Anlagen in Hilversum waren sendebereit, und die AVRO hatte keine Hemmungen, unter Aufsicht der Deutschen noch am gleichen Abend mit dem Programm fortzufahren. Auch die übrigen Rundfunkgesellschaften – von Katholiken, Protestanten und Liberalen – erklärten sich umgehend bereit, keine Sendungen gegen das Deutsche Reich, die Regierung oder die Wehrmacht zu bringen. Neben der Peitsche gab es von den Besatzern auch ein wenig Zuckerbrot: Die holländischen Sender mussten keine nationalsozialistische Propaganda machen, und die niederländischen Nationalsozialisten samt ihrem Führer Anton Mussert bekamen keinen Zutritt zu den Mikrofonen. Die Deutschen wussten, wie verhasst die NSB war, und sie wollten keine Hörer verlieren. Rund jeder dritte Haushalt besaß inzwischen ein Radiogerät. Da konnten die Sieger erst einmal großzügig sein.
16. Mai – Der Marsch der deutschen Soldaten durch Amsterdam am Tag der Kapitulation war nur ein Vorspiel gewesen. »Auf Befehl des Führers« fand am Tag danach eine große Siegesparade mit 39 Armeekorps der Wehrmacht statt. Durch die Paleisstraat, die zum Dam führt, marschierte die gesamte SS -Leibstandarte Adolf Hitler zum Paradedefilee. »Hohes Tempo, schwere Wagen, prächtige Rüstungen, große Disziplin« stand in den Abendausgaben der Zeitungen. Blumen waren verpönt, die Panzer hatten keine Verzierungen. Die Soldaten blickten ernst und nur geradeaus, keine Zurufe, kein Winken. Die Demonstration an geballter Kraft, Disziplin, Entschlossenheit und hochmoderner technischer Ausrüstung verfehlte ihre Wirkung bei den Amsterdamern nicht.
Der Schock weicht der Erkenntnis, gegen einen solchen Feind keine Chancen zu haben. Der vielgerühmte Realitätssinn der Niederländer stützt alle jene, die dafür plädieren, Ruhe und Ordnung zu bewahren, den Alltag wieder aufzunehmen, abzuwarten. Während die siegreiche Wehrmacht am 16. Mai durch die Hauptstadt marschiert, erklären sich am Regierungssitz in Den Haag die Generalsekretäre aller Ministerien zur Zusammenarbeit mit den Besatzern bereit. »Generalsekretär« heißt in den Niederlanden der nicht gewählte, höchste Beamte im Ministerium. Er trägt keine politische Verantwortung und setzt normalerweise die Vorgaben des Ministers in die Praxis um. Als die Regierung in der Nacht vom 13. auf den 14. Mai nach England flüchtete, hatte sie die Generalsekretäre ermächtigt, in Vertretung der Minister die Geschäfte zu führen, – auch gegenüber möglichen Besatzern –, und ihnen damit politische Verantwortung zugewiesen.
Die deutschen Besatzer reagieren umgehend auf das Signal der Generalsekretäre. Die Zeitungen drucken eine Proklamation des deutschen Oberbefehlshabers. Erstens soll jeder Niederländer »bei seiner Arbeit und auf seinem Posten« bleiben. Zweitens »soll die öffentliche Verwaltung im Falle loyaler Zusammenarbeit mit der deutschen Obrigkeit auf ihrem Posten gelassen werden«. Der Generalsekretär im Ministerium für Bildung, Kunst und
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