Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
Zukunft zu unterlassen.
Hauptbahnhof Amsterdam Sommer 1940: mit holländischen Waren bepackt, gehen deutsche Soldaten auf Heimaturlaub
Beim Tageslicht arrangierten sich alle wieder. Die deutschen Soldaten kauften Amsterdams Geschäfte leer – Möbel, Haushaltsgeräte, Damenkleider, Uhren, Schmuck, Spielzeug, Schokolade. Einfach alles schickten sie in die Heimat oder stiegen bei Urlaub vollbepackt in den Zug. Der Amsterdamer Mittelstand war zufrieden. Und im nationalen Maßstab liefen die Geschäfte zwischen der deutschen Wehrmacht und den Niederlanden ähnlich gut: Ende Oktober zählte die Statistik Aufträge im Wert von 740 Millionen Gulden, eine Verdoppelung gegenüber dem August.
Am 7. September begann der »große Angriff auf England«, die »Operation Seelöwe«. 300 Bomber und 600 Eskortjäger der deutschen Wehrmacht stiegen auf in Richtung London; 436 Menschen starben bei diesem ersten Bombenangriff in den Trümmern der britischen Hauptstadt. Bis zum 15. November würden die deutschen Bomber Nacht für Nacht London, aber auch andere englische Städte angreifen. Im Gegenschlag gerieten nicht nur deutsche Städte ins Visier der Engländer, auch die Amsterdamer mussten »zahlen«, als Geisel in deutscher Hand. Zwischen Ende September und Mitte Oktober starben durch Bombenangriffe auf die Hauptstadt an der Amstel über ein Dutzend Menschen, viele wurden verwundet. Die Amsterdamer, inzwischen an das Leben in zwei Welten gewöhnt, ließen sich von der deutschen Propaganda zu keinen Demonstrationen gegen die englischen Attacken anstiften. Sie wussten: Ein Ende der Besatzung war nur mit Hilfe der verbündeten Anti-Hitler-Front, der Alliierten, möglich.
Reichskommissar Seyß-Inquart, der Musikliebhaber, kam oft und gerne von Den Haag, seinem Regierungs- und Wohnsitz, ins Amsterdamer Concertgebouw herüber und pflegte freundlichen Umgang mit dem berühmten Willem Mengelberg. Als er Ende September das Konzertprogramm für das Winterhalbjahr las, war er empört. Für den 2. Oktober wurde der Vertreter von Mengelberg ins Reichskommissariat nach Den Haag befohlen. Dort bekam er zu hören, der Reichskommissar habe bisher großzügig darüber hinweggesehen, dass im Concertgebouw noch immer jüdische Musiker spielten. Um so verstimmter sei er über einige »jüdische Erscheinungen« im geplanten Programm: die Erste Sinfonie von Mahler, das Violinkonzert und die Italienische Sinfonie von Mendelssohn und »Mathis der Maler« von Hindemith. Falls diese Kompositionen zur Aufführung kämen, würden der Reichskommissar und seine Mitarbeiter kein Konzert des Concertgebouw-Orchesters mehr besuchen und dem Orchester würden alle Zuschüsse gestrichen.
Der Vertreter Mengelbergs erinnerte daran, dass sich Dirigenten und Geschäftsführung des Concertgebouw bisher stets an die Wünsche der deutschen Autoritäten hielten, indem sie nur noch Arier als neue Musiker einstellten und einige jüdische Musiker inzwischen das Orchester verlassen hätten. Das Ergebnis des Rapport-Gesprächs: Mendelssohn wurde vollständig gestrichen; Willem Mengelberg, dem Mahler-Freund und -Kenner zuliebe, durfte die Erste Sinfonie von Mahler noch einmal in Amsterdam und Den Haag aufgeführt werden, »gewissermaßen als Abschluss der bisherigen Aufführungen dieses Komponisten«. Für die Oper des Komponisten Paul Hindemith, der kein Jude war, gab es für diesmal grünes Licht, doch für die Zukunft mussten Aufführungen seiner Werke unterbleiben.
Das Reichskommissariat hielt am 10. Oktober die Übereinkunft mit dem Concertgebouw-Orchester in einem Brief fest, der mit dem Hinweis schloss: »Der allmählichen Bereinigung des Orchesterkörpers von jüdischen Mitwirkenden möge man weiterhin sein Augenmerk schenken.« Die Geschäftsführung vom Concertgebouw hatte zu diesem Thema schon vorauseilenden Gehorsam gezeigt. Im großen Konzertsaal schmücken die umlaufende Galerie 29 grün-goldene Kartuschen mit den Namen berühmter Komponisten, darunter Mahler, Rubinstein und Mendelssohn. Dass diese drei unter deutscher Besatzung abgedeckt wurden, konnte keinem Besucher verborgen bleiben. Und die Kenner registrierten, dass die jüdischen Geiger, die bisher am ersten Pult spielten, nun ans letzte versetzt waren.
In Amsterdam allerdings war im Oktober ein anderes Thema Stadtgespräch, auch wenn es insgeheim mit der Concertgebouw-Thematik verbunden war. Ab dem 5. Oktober 1940 bekamen die 24 547 Amsterdamer Bediensteten – vom Pförtner bis zum
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