Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
weil sie ihre Arbeitsplätze behalten wollen. Endlich, nach einem Jahrzehnt der Arbeitslosigkeit, war wieder Geld im Portemonnaie und man musste nicht mehr vor den trostlosen Stempellokalen Schlange stehen. In der zweiten Jahreshälfte 1940 sank mit jedem Monat die Arbeitslosigkeit; die Durchschnittseinkommen und damit die allgemeine Kaufkraft stiegen. Die Deutschen lobten die niederländische Qualitätsarbeit und die pünktlichen Lieferungen. Bis zum August hatte die Wehrmacht für 370 Millionen Gulden Aufträge an die niederländische Wirtschaft vergeben; ein Geschäft im gegenseitigen Interesse.
Der Aufschwung änderte nichts daran, dass Amsterdam eine Stadt ohne Autos geworden war; Fahrradtaxis und Pferdewagen zogen durch die Straßen, weil Benzin zu knapp und teuer war. Auf die düsteren Straßen bei Nacht und die befohlene Verdunkelung hätte man gerne verzichtet. Aber mit den schweren dunklen Gardinen verschwand auch die Welt draußen, und man konnte es sich in den eigenen vier Wänden auf die vertraute Weise gemütlich machen. Die Verdunkelung führte allerdings dazu, dass von Juni bis Dezember 1940 rund 450 Menschen nachts in die Amsterdamer Grachten fielen; 25 von ihnen ertranken. Geschäftstüchtige Amsterdamer boten sich in Anzeigen als »Führer« durch die dunklen Straßen an. Insgesamt war die Stimmung nicht schlecht, nach der Devise: Wir haben nun mal den Krieg verloren; es könnte alles viel schlimmer sein.
Ab und an riskierte man ein »verzetje« (Widerstand im Kleinformat): knüpfte schmale orangene Bänder – die Farbe des Hauses Oranien – ans Fahrrad, oder stellte orangenfarbene Blumen ins Fenster. Und am 28. Juli 1940, abends um 21 Uhr, saßen fast alle Niederländer am Radio und hörten aus einem Studio der BBC in London erstmals in vertrauter niederländischer Sprache: »Hier ist Radio Oranje, die Stimme der kämpfenden Niederlande; eine Sendung der niederländischen Exil-Regierung.« Dann sprach Königin Wilhelmina. Sie erinnerte daran, dass in früheren Zeiten nichts »unseren Freiheitssinn, unsere Gewissensfreiheit und unsere Glaubensfreiheit« hatte auslöschen können. Sie sei überzeugt, dass »wir und unsere Landsleute auch in der jetzigen Epoche aus dieser Prüfung mit allem, was uns heilig ist, gestärkt und geläutert hervorgehen werden«. Dem Verbot der Sieger, feindliche Sender zu hören, zum Trotz, gab es am nächsten Tag in den Straßenbahnen und Geschäften von Amsterdam, an den Arbeitsplätzen und in den Schulen kein anderes Thema als die Worte der Königin, die alle berührt hatten.
Jeden Abend zur gleichen Zeit sendete von nun an Radio Oranje eine Viertelstunde für die Menschen in der Heimat: gegen die Propaganda der Deutschen, für den Glauben an ein freies Holland. Zu den drei Redakteuren in London gehörte der Journalist Louis de Jong, dem am 14. Mai mit seiner schwangeren Frau die Flucht gelungen war, während seine Eltern, seine kleine Schwester und seine Tante Alida de Jong in Amsterdam zurückblieben.
Bei aller Begeisterung für die Königin wurde bald Kritik geübt an den Sendungen aus der Ferne. Die Redakteure in London hatten kaum Kontakt zum besetzten Land, waren schlecht oder mit großer Verspätung informiert. Das Viertelstündchen Radio Oranje am Abend hatte wenig Einfluss auf den Alltag in der Hauptstadt. Da war weiterhin Pragmatismus angesagt. Und die Amsterdamer, die solchen Pragmatismus verabscheuten – weil er auf Kollaboration mit den Deutschen hinauslief –, sind im Sommer 1940 an einer Hand abzuzählen. Der Journalist Frans Goedehart, 1904 geboren, überzeugter Sozialist, ist einer der wenigen, der zum Widerstand auffordert.
Am 25. Juli 1940 liegt in rund fünfhundert Amsterdamer Briefkästen und Hauseingängen der »1. Nieuwsbrief von Pieter ’t Hoen«. Es ist ein vierseitiges Flugblatt, das gegen die Propaganda der Besatzer unabhängige Informationen liefert und nicht mit Verachtung für die angepasste niederländische Presse spart. Wie der Aufklärer und Journalist Pieter ’t Hoen im 18. Jahrhundert will das Flugblatt die wahren Patrioten stärken und aufrütteln: »Ein deutscher Sieg wird aus der ganzen Welt ein Gefängnis machen.« Anpassung führt in den Untergang des Landes; nur mit Widerstand gegen die Besatzer ist die Freiheit zurückzugewinnen. Der Kampf lohnt sich: »Mut und Vertrauen! Die Zukunft gehört einem freien niederländischen Volk in einer freien Völkergemeinschaft.«
Anfang August folgte der »2.
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