Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
Zustimmung, doch keiner beteiligt sich am Protest. Der Schuldirektor bittet Barts Mutter Annie Romein-Verschoor zu einem Gespräch, um ihr offiziell sein Missfallen am Verhalten ihres Sohnes mitzuteilen. Aber beim Abschied ruft er ihr im Treppenhaus demonstrativ nach: »Vergessen Sie nicht, die Jungs zu grüßen!«
Es gab Kollegen, die den Entlassenen schrieben, wie sehr sie ihren Weggang bedauerten. In einem städtischen Betrieb Amsterdams ließ der Chef Geld sammeln, er wurde selbst sofort entlassen. Auf Kanzeln in Amsterdamer Kirchen wurde gegen die antijüdischen Maßnahmen gepredigt. Doch das waren kaum hörbare Töne in einem Meer des Schweigens. Nicht dass die große Mehrheit der Niederländer dem Berufsverbot für Juden zustimmte. Aber sie sah darin ein kleineres Übel, keinen Anlass zum Widerstand oder Protest angesichts der Machtverhältnisse zwischen Siegern und Besiegten. Das Schlimmste für die jüdischen Mitbürger war eben nicht eingetreten. Sie sollten versuchen, das Beste daraus zu machen. Schließlich mussten unter der Besatzung alle Opfer bringen. Auch von den Führern der jüdischen Gemeinden gab es keine öffentlichen Proteste. Solche Aktionen, hatte sie die Verwaltung wissen lassen, seien nicht im Interesse der Juden.
Das höchste niederländische Gericht tat ein Übriges, die Gewissen als sanfte Ruhekissen zu stabilisieren. Der Hohe Rat in Den Haag musste sich mit der durch die »Ariererklärung« erfolgten Trennung in jüdische und nichtjüdische Beamte und den anschließenden Entlassungen befassen, weil das ein klarer Verstoß gegen das Grundgesetz war. Artikel 5 legte fest, dass jeder Niederländer jedes öffentliche Amt bekleiden konnte, unabhängig von religiöser Überzeugung und Herkunft.
Das höchste richterliche Organ der Niederlande, der Hohe Rat, entschied mit einer Mehrheit von 12 zu 5 Stimmen, die Verordnungen des Reichskommissars und die Anweisungen der Generalsekretäre in dieser Sache nicht zu missbilligen. Die Begründung blieb geheim. Erst nach 1945 war der Standpunkt der Gesetzeshüter vom Herbst 1940 nachzulesen: dem Hohen Gericht fehle die rechtliche Grundlage, den Aktionen der Besatzungsmacht die Rechtmäßigkeit abzusprechen. Sie hatten sogar das Argument der nationalsozialistischen Besatzer übernommen, dass man »jüdische Beamte« als »gefährlich« einschätzen müsse.
Ironie des Schicksals: Der Präsident des Gerichts, Lodewijk Ernst Visser, hatte freiwillig wegen Befangenheit nicht an der Abstimmung teilgenommen – weil er Jude war. Der international angesehene neunundsechzigjährige Jurist war seit 1915 Mitglied und seit 1939 Präsident des Hohen Rates. Auch für ihn gab es keine Ausnahme von den Folgen der »Ariererklärung«. Am 21. November 1940 unterschrieb der niederländische Generalsekretär für das Justizministerium »im Auftrag des Reichskommissars« an den »Edelhochachtbaren« nichtarischen Staatsbediensteten das Entlassungsschreiben: »… dass Sie mit Eingang vom 23. November 1940 der Wahrnehmung der Funktion als Präsident des Hohen Rates der Niederlande enthoben werden.« Visser werde »vorläufig im Genuss des Gehaltes, der Zulagen usw.« bleiben. Niemand seiner Kollegen im Hohen Rat hat protestiert, weder intern bei den zuständigen Gremien, geschweige denn öffentlich.
Manchmal helfen Fakten, so dürr sie sind, ein wenig weiter. Der Protest, von dem nichts zu hören und der Widerstand, zu dem niemand nach der »Ariererklärung« und der anschließenden Entlassung der jüdischen Beamten und Angestellten aufrief, hätte im doppelten Sinn einer Minderheit gegolten. Unter den Beschäftigten der Kommunen machten die Kollegen und Kolleginnen jüdischen Glaubens prozentual nur einen Bruchteil aus – in Amsterdam knapp 800 von fast 25 000 Beschäftigten. Auch innerhalb der jüdischen Gemeinschaft waren Beamte und Angestellte eine Minderheiten-Berufsgruppe – in Amsterdam knapp 800 von 80 000 jüdischen Bewohnern. Die Mehrheit der Juden wählte freie Berufe, sie waren Geschäftsleute, Händler, Ärzte, Rechtsanwälte. Um so leichter fiel es auch den ehrlich Empörten – Juden wie Christen –, an eine vorübergehende Maßnahme und große Ausnahme zu glauben.
Der November ist noch nicht vorbei, da erhält Amsterdams Bürgermeister eine neue Verordnung der Besatzer: Alle Juden in Ehrenämtern sind zu entlassen, als Ehrenamt wird auch die Arbeit der Gemeinderäte qualifiziert. Diesmal widerspricht die Stadtverwaltung. Bürgermeister
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