Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
hochgezogenen Brückenwand. Wer die steinerne Blauwbrug passieren will, ob zum Rembrandt- oder zum Waterlooplein, dem versperrt ein Doppelposten aus deutscher und Amsterdamer Polizei den Weg. Gleiches betrifft alle Zufahrtstraßen ins Viertel, wobei die »Grünen« Stahlhelm und Gewehr tragen. Wer über den Nieuwmarkt geht, an der Waage vorbei, kommt nicht weiter: Der Platz ist von Stacheldraht umgeben, Arbeiter stellen große hölzerne Schilder auf: »Judenviertel/Joodsche Wijk«. Die vier Straßenbahnen, die durchs Judenviertel fahren, liegen still; jeder Durchgangsverkehr ist verboten.
Alle Maßnahmen, so Böhmcker an die Stadtverwaltung, die nur zu gehorchen hatte, dienten der »Wiederherstellung und Sicherung der Ordnung«. Doch es blieb nicht bei der hermetischen Absperrung. Nichtjuden sollten umgehend ihre Geschäfte im Judenviertel räumen, nichtjüdische Kinder in Schulen außerhalb des Viertels verlegt werden. Juden aus anderen Stadtteilen sollten hierher ziehen. Offensichtlich nutzte der Vertreter des Reichskommissars die Straßenkämpfe als Vorwand, in einer Metropole Westeuropas ein Getto einzurichten. Der Amsterdamer Bürgermeister und seine Beamten waren entsetzt: eine völlig unpraktikable Idee, die nur Chaos produzieren würde. Was sie nicht laut sagten, was aber allen Amsterdamern präsent war: Dass die Amsterdamer Obrigkeit, seit sich Juden um die Wende zum 17. Jahrhundert an der Amstel niederließen, ausdrücklich gegen jede Art von Getto votiert hatte.
Nun, rund dreihundertfünfzig Jahre später, wiesen die Stadtpolitiker die deutsche Besatzungsmacht vorsichtig auf aktuelle Probleme der Absperrungsmaßnahmen hin: Dürfen Gemeinde- und Reichsbeamte, die im Judenviertel wohnen, es verlassen, um zu ihren Arbeitsplätzen zu gelangen? Ja, hieß es um 10 Uhr; nein, wurde um 14 Uhr durchgegeben. Soll wirklich kein Durchgangsverkehr für Straßenbahnen und Autos erlaubt sein, wo doch der ganze innerstädtische Transport zum Erliegen käme? Auf jeden Fall erst einmal eine Sperre für vier Tage, lautet die Antwort.
Hans Böhmcker war mit seinen Gedanken und Aktionen schon weiter. Er ließ den Unternehmer Abraham Asscher, den Geschichtsprofessor David Cohen und einige Rabbiner in sein Büro am Museumsplein rufen. Sie seien ab sofort der »Jüdische Rat für Amsterdam«, zuständig für die geordnete Durchführung aller Anordnungen der Besatzer und verantwortlich für Ruhe und Ordnung unter der jüdischen Bevölkerung. Die Rabbiner widersprachen, ihnen obliege nur der religiöse Dienst in den Gemeinden. Kein Problem für Böhmcker, dann besteht der Jüdische Rat eben aus den Herren Asscher und Cohen und anderen Mitgliedern der jüdischen Führungsschicht, die sie sich auswählen können. Er hat auch gleich einen Befehl für sie: die Juden im Viertel aufzufordern, innerhalb von vierundzwanzig Stunden alle Feuer- und Schlagwaffen abzuliefern.
Noch etwas ist für den 12. Februar nachzutragen. Da den WA -Trupps durch die Sperren der Zugang ins alte Judenviertel verwehrt war, machten sie sich auf nach Amsterdam Zuid. In der Beethovenstraat warfen sie im beliebten Café de Paris und in einem Zigarrenladen die Scheiben ein. Dann ging es weiter zum Eissalon Koco in der Rijnstraat, wo sie die Einrichtung zerschlugen. Die Gäste, Juden und Nichtjuden, schwören sich, beim nächsten Angriff gewappnet zu sein und zurückzuschlagen.
Am Vormittag des 13. Februar drängen sich in heftigem Regen so viele Menschen vor der Diamantenbörse am Weesperplein, um Abraham Asscher und David Cohen zu hören, dass zwei Veranstaltungen organisiert werden. Erst vor 2700 und dann noch einmal vor 1900 Menschen – unter den Augen deutscher Kontrolleure – ruft Asscher seine Glaubensgenossen dazu auf, Waffen aller Art beim Polizeirevier am Jonas Daniel Meijerplein abzuliefern. Die meisten Zuhörenden, die nun auch vom neu installierten Judenrat hören, verübeln es ihren Gemeindeführern, den Befehl der Deutschen widerspruchslos weiterzugeben. Zumal jeder weiß, dass es im Judenviertel kaum Waffen gibt.
Der oberste Besatzer, Reichskommissar Seyß-Inquart, sah die Lage in der Hauptstadt wieder in ruhiges Fahrwasser gleiten, und fuhr in den Urlaub ins heimatliche Österreich. Über der Amstel blieben die Brücken hochgezogen, Doppelposten blockierten weiterhin die Straßen ins Judenviertel. Eingesperrte wie ausgesperrte Amsterdamer waren gleichermaßen betroffen. Waterlooplein und Rembrandtplein, Kalverstraat und Jodenbreestraat,
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