Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
Ehefrauen auf der Schreibmaschine getippt, teils mit der Hand geschrieben, abgezogen: » PROTESTIERT GEGEN DIE ABSCHEULICHEN JUDENVERFOLGUNGEN !!! STREIKT !!! STREIKT !!! STREIKT !!!« Dann wird das »arbeitende Volk von Amsterdam« gefragt, ob es die »Judenpogrome« erdulden müsse? Die Antwort heißt »Nein, tausendmal NEIN !!!« Mut machend erinnert das Flugblatt an die Amsterdamer Werftarbeiter, die im Kampf gegen die Zwangsarbeit gezeigt haben, dass man die deutsche Militärmacht besiegen kann.
25. Februar – Am Abend wird der Amsterdamer Lehrer Hendrik Jan Smeding in sein Tagebuch schreiben: »Es war ein Festtag, es war wieder ›unser‹ Tag … Die Stadt, leer von Straßenbahnen, ist noch nie so prickelnd und lebendig gewesen, und eine solche Einigkeit habe ich noch bei keiner früheren Gelegenheit gefühlt … Heute sind wir ganz und gar ›frei‹ gewesen.« Es war wirklich ein besonderer Tag für Amsterdam, und das Pathos der Freiheit war angebracht.
Kommunistische Aktivisten hatten morgens um vier Uhr vor Fabriktoren, Eisenbahn- und Straßenbahndepots mit ihren Flugblättern – » STREIKT !!! STREIKT !!! STREIKT !!!« – geworben. Doch die Menschen zögerten. Erst als die Mitarbeiter der Stadtreinigung massiv die Arbeit niederlegten und sich auf den Weg in die Innenstadt machten, kamen immer mehr Menschen aus Büros und Betrieben und schlossen sich ihnen an. Die Fähren brachten Unmengen jubelnder Arbeiter von den Werften jenseits des IJ in die Stadt. Noch um 9 Uhr hatten leitende Beamte der städtischen Verkehrsbetriebe die Straßenbahnfahrer der zentralen Tramremise in der Kromme Mijdrechtstraat bewogen, auszufahren. Doch sie kamen nicht weit, die Bahnen wurden mit Steinen beworfen, Menschen setzten sich auf die Schienen. Um 11 Uhr waren alle Bahnen wieder in der Remise, Fahrer und Schaffner verweigerten die Arbeit – der öffentliche Verkehr in Amsterdam war lahmgelegt. Es war das Signal für alle, die noch zögerten, sich mit dem Strom der Menschen durch Amsterdams Straßen treiben zu lassen, fröhlich, lachend, entspannt – frei.
Dam und Rokin waren schwarz von Menschen. Das Personal vom Luxuswarenhaus Bijenkorf, rund 1300 Menschen, wurde ausgelassen im Kreis der Streikenden begrüßt. Gegen Mittag war die Kalverstraat überfüllt. In den Vierteln am Rand der Stadt machten sich die Menschen auf den Weg ins Zentrum. Bald waren es Zehntausende, die Amsterdams Straßen und Plätze füllten. Was mit wenigen einfachen Flugblättern begonnen hatte, entfaltete eine Dynamik, die längst über einen traditionellen Streik hinausging.
Niemand skandierte Streikparolen, nirgendwo wurden Transparente mit Forderungen hochgehalten. Es gab keine zentrale Organisation. Die Menschen waren sich genug in ihrem Gefühl, die permanente Angespanntheit abgeworfen zu haben und ohne Angst miteinander zu kommunizieren, sich in ihrer Stadt frei zu bewegen. Sie waren stolz auf eine volksfestartige Bürger-Demonstration, die wie aus dem Nichts entsprang und alle überraschte.
Bürgermeister Willem de Vlugt erlässt einen dringenden Aufruf an die städtischen Beamten und Angestellten, ihre Arbeit wieder aufzunehmen – vergebens. Die von den Deutschen kontrollierte Presseagentur befiehlt per Fernschreiben allen Zeitungsredaktionen: »Über Streiks in Amsterdam und den allgemeinen Zustand in der Stadt soll nichts veröffentlicht werden.« Da waren die Amsterdamer längst informiert, und der Funke der Aufmüpfigkeit hatte auf Hilversum, Haarlem, Den Haag und Utrecht übergegriffen. Am späten Mittag erscheinen die ersten Plakate der Besatzer und drohen Demonstranten mit schweren Strafen. Aber keine deutschen Polizisten, keine »Grünen«, lassen sich blicken, um gegen die Menge vorzugehen.
Die Amsterdamer Polizei, ohnehin Tag und Nacht mit Patrouillen auf der Straße, muss reagieren. Schnell wird deutlich, dass sie nicht aktiv gegen die Menschenmenge vorgehen wird, obwohl die von Stadtverwaltung und Besatzern stets geforderte »Ruhe und Ordnung« zweifellos gestört ist. Die Polizisten versuchen, die Massen unauffällig so zu lenken, dass keine Stauungen, keine Aggressionen sich aufbauen. Es kommt zu Geplänkeln, sechs Menschen werden leicht verwundet. Ernste Konfrontationen bleiben aus. Die Lautsprecherwagen der Deutschen, die für 19 Uhr 30 eine Ausgangssperre anordnen, fahren nachmittags unbehelligt durch die Straßen. Die Menge verläuft sich. Am 25. Februar ist Amsterdam ab abends halb acht eine stille, leere
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