Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
so wenig bewusst ist, dass solches Material bei ihm gefunden wird, werde ich vor ernsten Maßregeln nicht zurückschrecken.« Der Brief schließt, man müsse ein Vorbild für die Jugend sein, und es gelte, »gegenüber der Besatzungsmacht eine vollkommen würdige und beherrschte Haltung anzunehmen«. Das konnte jeder auf seine Weise auslegen.
Am gleichen Februartag erhielten die jüdischen Beamten und Angestellten von Städten und Gemeinden, Männer wie Frauen, die im November 1940 »ihrer Funktionen« enthoben und nach Hause geschickt worden waren, einen Brief, in dem ihnen ihre endgültige Entlassung mitgeteilt wurde.
22. Februar – Es ist Samstag, Schabbat für die frommen Juden Amsterdams. Auch die weniger frommen lassen es an diesem Tag der Woche langsamer angehen, machen einen Spaziergang, treffen sich mit Freunden. Im alten Judenviertel ist die Stimmung, trotz der anhaltenden Absperrungen, leicht entspannt. Doch gegen halb vier kommt Unruhe in den Straßen um Jonas Daniel Meijerplein und Waterlooplein auf. Dutzende von Überfallwagen der deutschen Polizei und große Mannschaftswagen halten mit quietschenden Bremsen, schwer bewaffnete Polizisten springen heraus, sechshundert insgesamt. Die »Menschenjagd« kann beginnen.
Zur gleichen Zeit machte sich Mirjam Levie, die als Dolmetscherin im Flüchtlingskomitee arbeitet, das Abraham Asscher für die deutsch-jüdischen Emigranten gegründet hatte, auf den Weg, um den Vater ihres Verlobten an der Nieuwe Keizersgracht zu besuchen. Für Leo Bolle, der nach Palästina ausgewandert ist, schreibt sie hinterher auf, was sie erlebte. An der Brücke der Weesperstraat sah sie »einen Deutschen in grüner Uniform, die ›Grüne Polizei‹. Ich achtete nicht besonders darauf, ging aber schnell weiter. Kurz darauf kamen Max und Eva und erzählten, der Grüne halte Juden an, packe sie am Kragen und lasse sie zum Jonas Daniel Meijerplein abführen. Wir stellten uns ans Fenster und sahen ein Schauspiel, das ich nie vergessen werde«.
Erste Razzia auf jüdische Männer am 22. Februar 1941: von deutschen Soldaten am Jonas Daniel Meijerplein gefangen und schikaniert
Inzwischen standen mehrere Polizisten an der Brücke und fragten jeden vorüberkommenden Mann: »Sind Sie Jude?« Wenn er bejahte, wurde er gepackt und »buchstäblich weitergetreten«. Zwei Jungen näherten sich mit ihren Mädchen. Mirjam Levie: »Die Mädchen wurden weggeschickt und die beiden Jungen bekamen solche Ohrfeigen, dass ihre Hüte davonflogen.« Wahllos wurden Männer vom Fahrrad gerissen, eingekaufte Esswaren flogen über die Straße. Wer auch nur den Ansatz machte, sich zu wehren, den schlugen die Polizisten nieder und traten ihn mit Füßen, bis er sich nicht mehr bewegte. Mit Gebrüll wurden die Juden anschließend aufgefordert, zum Jonas Daniel Meijerplein zu gehen, unter Bewachung und mit erhobenen Armen. Dort mussten sie, die Arme weiter hoch gehoben, an der Wand eines Luftschutzbunkers in die Hocke gehen und warten.
In Windeseile hatte sich das Unvorstellbare, Unerhörte im Viertel herumgesprochen – eine Razzia auf Juden in einer westeuropäischen Metropole. Nur fort und den Menschenjägern nicht unter die Augen kommen. Die deutschen Soldaten liefen durch leere Straßen, brachen Türen auf. Wo sie einen jüdischen Mann in der Wohnung fanden, der nicht zu alt schien, packten sie ihn und prügelten ihn zum Sammelplatz. Gegen halb sechs hatten die Deutschen genug. Die Juden wurden in zehn große grüne Wagen gestoßen, die vor der portugiesischen Synagoge standen, und weggefahren.
23. Februar – Es ist Sonntagmorgen im Judenviertel. Wieder quietschende Bremsen, wieder schwer bewaffnete »Grüne« auf Menschenjagd. Diesmal um die Gegend an der Uilenburgstraat, wo – trotz aller Schrecken vom Vortag – der beliebte Sonntagsmarkt stattfindet. Eine zweite Razzia soll die von Himmler gewünschte Zahl an gefangenen Juden voll machen. Wieder die gleichen Bilder von Gewalt und Demütigung. Am Ende dieses Tages sind insgesamt 427 jüdische Männer, zwanzig bis fünfundzwanzig Jahre alt, in der Öffentlichkeit festgenommen, fortgefahren worden. Keiner ihrer Familienangehörigen und Freunde erfährt, wo sie sind, was mit ihnen geschieht.
Am Tag nach der Sonntags-Razzia, am 24. Februar, versammeln sich abends rund zweihundertfünfzig nichtjüdische Arbeiter, vor allem Anhänger der verbotenen Kommunistischen Partei, auf dem Noordermarkt im Jordaan. Zwei Genossen haben ein Flugblatt, teils von den
Weitere Kostenlose Bücher