Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
Rokin und Oudeschans, seit dem 12. Februar unerreichbar für die einen oder die anderen, hatten bisher als Lebensadern einen ungeteilten städtischen Organismus, in dem sich alle frei über Straßen, Grachten und Plätze hinweg bewegen konnten, verbunden. Die Märkte im Judenviertel, die Konfektionsgeschäfte wie die Gemüse-, Fisch- und Obstkarren in der Jodenbreestraat, die Imbissstuben am Waterlooplein und die köstlichen Süßigkeiten auf dem Nieuwmarkt: Das war für die Amsterdamer kein exotisches Beiwerk, es machte das Herz der Metropole aus. Nun standen die Menschen stumm, entsetzt und in ohnmächtiger Wut mitten in ihrer Stadt an Grenzen, die die Besatzer gezogen hatten.
Zwei Tage blieb es ruhig in Amsterdam. Dann, am Vormittag des 15. Februar, folgte eine Machtdemonstration der Besatzer: Zum »Tag der deutschen Polizei« marschierte das Polizeibataillon 254, mit Stahlhelm und Gewehr, durch die Innenstadt. Am 17. und 18. Februar demonstrieren rund zweitausendzweihundert Werftarbeiter gegen den angekündigten Arbeitsdienst in Deutschland. Der Platz vor den Werfttoren ist schwarz vor Streikenden, die im festlichen Sonntagsstaat gekommen sind. Da erscheinen die Direktoren und verkünden, was in der Nacht zuvor Reichskommissar Seyß-Inquart aus seinem Urlaubsquartier angeordnet hat: Kein Amsterdamer Werftarbeiter wird gezwungen, nach Deutschland zu gehen.
19. Februar – Gegen Abend melden Wachtposten jüdischer Kampfgruppen ihren Mitstreitern im Eissalon Koco in der Van Woustraat, dass Gruppen von NSB lern durch die Gegend ziehen. Das Koco in der Van Woustraat gehört wie der gleichnamige Eissalon in der sich anschließenden Rijnstraat den beiden deutsch-jüdischen Emigranten Alfred Cohn und Ernst Cahn. Das Café wird geschlossen und verdunkelt. Die Gäste, Juden und Nichtjuden, ziehen sich in die hinteren Räume zurück, bereit zu kämpfen, wenn sie angegriffen werden.
Gegen 22 Uhr wird an die Türe gedonnert. Als sie gewaltsam aufgebrochen wird, kommen die Gäste im Dunkeln nach vorne, überzeugt, sich gegen niederländische Nazis zu verteidigen. Ob sie gegen die Angreifer scharfes Ammoniakgas versprühten, ob Schüsse fielen, wie die Deutschen später behaupten, ist unwichtig: Entscheidend ist, dass die Verteidiger nicht, wie sie glaubten, gegen WA -Leute vorgingen, sondern sich unvermutet im Handgemenge mit einer Patrouille deutscher Polizisten befanden. Das ist in den Augen der Deutschen das größtmögliche Verbrechen – gewalttätiger Widerstand gegen die Besatzer, dazu noch von Juden. Alle Männer im Eissalon werden verhaftet, darunter auch die beiden Besitzer.
Umgehend wird in Den Haag Hanns Albin Rauter informiert. Als einer der vier deutschen Generalkommissare in den besetzten Niederlanden ist er für das gesamte Sicherheitswesen verantwortlich. Dem vierundsechzigjährigen Höheren SS - und Polizeiführer unterstehen die deutsche Polizei und die SS in den Niederlanden, und auch bei der niederländischen Polizei hat er das letzte Wort. Für den ehrgeizigen Nationalsozialisten Rauter ist der Jurist Hans Böhmcker, wenngleich ein ebenso glühender Antisemit, ein lästiger Konkurrent. Der SS -Führer nutzt seinen direkten Draht zu Heinrich Himmler, dem Chef der deutschen Polizei und aller SS -Leute, und schreibt ihm am 20. Februar, er freue sich, »dass wir jetzt den Fall des Juden Cohn haben, in dem ich gerne durchgreifen möchte und wobei ich Sie bitte, mich zu unterstützen, dass im Amsterdamer Judenviertel endlich ein Exempel statuiert wird«. Himmler ist außer sich über den Angriff auf deutsche Polizisten. In einem Telefongespräch fordert er massive Vergeltung, rund 400 jüdische Männer zwischen 20 und 35 Jahren sollen in Amsterdam aufgegriffen und verhaftet werden.
Für die allermeisten Amsterdamer geht der Alltag unter den Besatzern wie gewohnt weiter. Am 21. Februar, einem Freitag, gibt der Direktor der »2. Realschule« an der Roelof Hartstraat, um die Ecke vom Concertgebouw, den Schülern ein Schreiben an die Eltern mit. Der niederländische Generalsekretär im Ministerium für Erziehung hatte alle Schulen informiert, dass bei einigen Schülern Material gefunden worden sei, das die Besatzer und das deutsche Staatsoberhaupt beleidige. Die Direktoren seien verpflichtet, permanent Bücher, Taschen, Schulkästen zu kontrollieren. »Selbstredend muss ich diesen Auftrag ausführen«, schreibt der Amsterdamer Direktor den Eltern. »Falls einem Schüler dieser Schule der Ernst der Lage
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