Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
waren, ist der neue Bürgermeister bemüht, die Forderung von hundert Entlassungen zu reduzieren. Man einigt sich schließlich auf vierundsiebzig. Den Verhandlungen liegen penible Recherchen zugrunde. Danach haben von den 10 198 städtischen Beamten 759 – das sind 7,5 Prozent – am 25. Februar gestreikt; von den 9151 städtischen Arbeitern 3592, das sind 39,3 Prozent.
SS -Führer Rauter nimmt die Februartage zum Anlass, die niederländische Polizei, traditionell in viele eigenständige Gruppierungen zersplittert, zur einer zentralen Staatspolizei umzuformen. Formal wird sie dem niederländischen Justizministerium unterstellt, faktisch muss sie den Befehlen Rauters gehorchen. Widerstand gibt es nirgends. Im April ernennt Rauter als neuen obersten Polizeichef für Amsterdam den jovialen, tatkräftigen Sybren Tulp. Tulps ganze Sympathie gilt dem nationalsozialistischen Deutschland, vor dessen Leistungen er, wie er 1940 schreibt, »den allergrößten Respekt« habe.
Finanzielle Folgen: Die städtischen Beamten und Arbeiter, die nicht an ihrem Arbeitsplatz erschienen waren, müssen eine »Buße« von insgesamt 55 621,64 Gulden zahlen. Am 12. März legen die Deutschen außerdem der Stadt Amsterdam als »Sühneleistung« für die Ereignisse am 24. und 25. Februar eine Summe von fünfzehn Millionen Gulden auf. Einzuziehen innerhalb von sechs Wochen von allen Einwohnern der Hauptstadt, die über hunderttausend Gulden im Jahr verdienen.
Am gleichen Tag spricht Seyß-Inquart zu niederländischen und deutschen Nationalsozialisten, die in großer Zahl ins Concertgebouw nach Amsterdam gebracht worden sind. Er kommt sofort auf die »Umtriebe gegen die öffentliche Ordnung« zwei Wochen zuvor in Amsterdam zu sprechen. Die Schuldigen sind »zweifellos jene Kräfte, vor allem wieder die Juden, die letzten Endes diesen als Vernichtungskrieg gegen das deutsche Volk gemeinten Kampf entfesselt haben«. Sie haben »einen Teil der an sich ihrer Beschäftigung bisher in Ordnung nachgehenden Bevölkerung zum Widerstand aufgereizt und verführt«. Man werde, wenn nötig, »in der Zukunft noch härter sein«, der politische Kampf werde »nicht mit Glacéhandschuhen geführt«.
Diese Drohungen sind nur das Vorspiel zum Kern dessen, was der Vertreter Hitlers der holländischen Bevölkerung ins Stammbuch schreibt. Der Kern nationalsozialistischer Politik, jetzt wird der Schleier zerrissen, gilt auch in den Niederlanden der »Judenfrage«: »Ich erkläre, dass mein Wort ›Wir wollen das niederländische Volkstum nicht bedrücken und ihm unsere Überzeugung nicht aufdrängen‹ nach wie vor gilt, aber dies gilt nur für das niederländische Volk. Die Juden werden von uns nicht als ein Bestandteil des niederländischen Volkes angesehen. Die Juden sind für den Nationalsozialismus und das nationalsozialistische Reich der Feind … Die Juden sind für uns nicht Niederländer. Sie sind jene Feinde, mit denen wir weder zu einem Waffenstillstand noch zu einem Frieden kommen werden.«
Wer die Hoffnung hatte, ganz so schlimm werde es nicht kommen, dem lässt die Rede von Seyß-Inquart am 12. März 1941 im Concertgebouw, wo die Musik die Amsterdamer so oft hinwegführte in eine andere Welt, keine Ausflucht mehr: »Wir werden die Juden schlagen, wo wir sie treffen, und wer mit ihnen geht, hat die Folgen zu tragen. Der Führer hat erklärt, dass die Juden in Europa ihre Rolle ausgespielt haben, und daher haben sie ihre Rolle ausgespielt.« Es ist ein »geschichtlicher Auftrag« und der »gebietet uns, unerbittlich hart zu sein«. Der Reichskommissar wendet sich ausdrücklich an alle Niederländer: »›Mit uns oder gegen uns‹, das ist die Parole und die Entscheidung, vor der jeder steht.«
Mit der Rede am 12. März zeigten die Besatzer die Peitsche. In den Tagen zuvor demonstrierten sie, dass es weiterhin Zuckerbrot für die Amsterdamer gab. Man musste sich nur den deutschen Eroberern und ihrer Nazi-Ideologie fügen. Auf der Kunsteisbahn der Apollohalle in Amsterdam Zuid, wo das elfjährige deutsch-jüdische Mädchen Anne Frank so gerne Pirouetten drehte und Eislaufunterricht nahm, zeigte das deutsche Weltmeisterpaar Ernst Baier und Maxi Herber am 11. März seine Kunst im Paarlauf. Das Publikum jubelte und konnte ohne Eile abends nach Hause gehen. In Amsterdam galt die nächtliche Ausgangssperre wieder ab 22 Uhr, nachdem die Besatzer sie am 25. Februar auf 19 Uhr 30 vorgezogen hatten. Doch wie weit lag dieser Tag und der prickelnde
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