Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
Kleider und vieles andere. Wo sollten sie einkaufen? Etwa bei Nichtjuden? In der Sache ließ Böhmcker nicht mit sich reden. Aber den Beginn des Marktverbots verschob er großzügig auf den 29. September und erklärte sich bereit, »solange noch Juden größeren Ausmaßes in den Niederlanden« sind, für Amsterdam eine Ausnahme zu machen: drei »Judenmärkte« dürften angelegt werden.
Ohne Widerworte machte sich die Verwaltung daran, in den Vierteln mit starker jüdischer Bevölkerung – Rivierenbuurt, Transvaal und Innenstadt – je ein »gänzlich umzäuntes Gelände« zu suchen. Schließlich wurde den Juden aus ganz Amsterdam in der Gaaspstraat, der Joubertstraat und am Minervaplein je ein Markt zum Einkaufen und Verkaufen zugestanden. Von Zeit zu Zeit sah man Monne de Miranda über die Märkte am Minervaplein und in der Joubertstraat gehen; er sprach seinen Glaubensgenossen demonstrativ Mut zu und hielt Kontakt mit alten sozialdemokratischen Genossen. Der ehemalige Kommunalpolitiker war den meisten hier nicht unbekannt. Seine Frau durfte den sechsundsechzigjährigen de Miranda nicht begleiten, sie war keine Jüdin.
Inmitten von Angepasstheit und Resignation nutzten die Amsterdamer eine Möglichkeit, heimlich dem Besatzer und seiner Ideologie doch ein wenig zu trotzen. Het Parool, die illegale Zeitung im Untergrund, gewann nach den Februar-Unruhen deutlich an Leserschaft. Zu offensichtlich war in diesen Tagen geworden, dass die offiziellen Amsterdamer Zeitungen nur als Sprachrohr der deutschen und niederländischen Nationalsozialisten fungierten. Die auf 12 000 gestiegene Auflage ermutigte die Redaktion, ab dem 11. August Het Parool nicht mehr als vervielfältigte, sondern als gedruckte Zeitung herauszubringen. Bald umfasste der Kreis von Druckern, Setzern und Verteilern im ganzen Land neben den sechs Journalisten in der Redaktion fast 120 Menschen. Mitverschworene, die viel riskierten und unausweichlich Spuren hinterließen.
»Ich habe für die Freiheit gearbeitet und muss sehr teuer dafür bezahlen. Der Tod war der Einsatz. Diese Partie habe ich verloren.« Das steht in Druckschrift und mit dem Datum 6. Oktober auf der Rückseite eines schmalen Kartons, dessen Vorderseite die Hausordnung eines Gefängnisses enthält – das »Oranje-Hotel« in Scheveningen. Den Namen hatte die Baracke mit über 200 Zellen erhalten, weil die Gestapo in diesem Gefängnis Männer und Frauen inhaftierte, die in den Augen der Besatzer im Untergrund gegen die Deutschen aktiv waren und Widerstand leisteten.
Arie T. Addicks, der fünfundzwanzigjährige Buchhalter aus Amsterdam, hatte zweifach Widerstand geleistet. Einmal, weil er zu denen gehörte, die in der Hauptstadt heimlich Het Parool verteilten. Und dann hatte er sich heftig gewehrt, als am 6. September zwei niederländische Polizisten im Auftrag der Besatzer« die Wohnung seiner Eltern in der Boterdiepstraat 49, im südlichen Amsterdam, aufbrachen, um ihn festzunehmen. Ebenso entschieden kämpften die Eltern mit den Polizisten, um ihrem Sohn Zeit zum Flüchten zu verschaffen. Dabei wurde der Vater erschossen, die Mutter verletzt, Arie Addicks gelang die Flucht. Noch einmal konnte er bei einer zweiten Verhaftung, wo er angeblich einen deutschen Polizisten angeschossen hatte, entkommen. Doch am 27. war die Flucht durch Verrat zu Ende. Ein Kriegsgericht verurteilte Addicks zum Tode, er wurde ins »Hotel Oranje« überführt.
Arie T. Addicks, 25 Jahre: von den Besatzern exekutiert, weil er die illegale Zeitung Het Parool verteilte
Als er am 7. Oktober auf der Rückseite des Kartons in der Todeszelle seine Gedanken weiterschreibt, hat der junge Mann noch nicht aufgegeben: »Die Gegenseite bestimmt nun über mein Leben. Ich hoffe inständig, dass sie mir das Leben schenkt. Für sie bedeutet es nichts, für mich alles. Meine Mutter würde meinen Tod nicht überleben.« Arie Addicks hat ein Gnadengesuch eingereicht: »Um Gottes willen und wegen meiner Mutter, lasst mich leben.« Um 14 Uhr 30 ein Nachsatz: »Gnadengesuch abgewiesen.« Am 8. Oktober wird Arie T. Addicks in den Dünen bei Scheveningen von einem deutschen Erschießungskommando hingerichtet. Auf Litfaßsäulen verkünden die Machthaber grell und in großen Lettern seinen Tod. Auf dass im besetzten Land die Angst steigt und Mut und Hoffnung weiter sinken.
Es gab im Sommer und Herbst 1941 keine Widerstands-Netzwerke, weder in Amsterdam noch anderswo. Arie Addicks hatte nur ganz wenige Mitstreiter in der
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