Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
stets die Vernichtung der europäischen Juden war, ohne dass man bisher – nüchtern analysiert – dafür praktikable Lösungen gefunden hätte. Der große Krieg im Osten macht den Weg frei für die »Endlösung«.
Am 31. Juli erhält SS -Obergruppenführer Reinhard Heydrich, der ehrgeizige, intelligente und kulturliebende Chef des Reichssicherheitshauptamtes in Berlin, vom Minister und Reichsmarschall Hermann Göring den Auftrag, die »Judenfrage« einer »den Zeitverhältnissen entsprechend möglichst günstigen Lösung zuzuführen«. Im Rahmen der europäischen Gesamtlösung wird Anfang August in Den Haag bei der deutschen Verwaltung das »Sonderreferat Juden« eingerichtet. Sein Ziel: die »Endlösung der Judenfrage in den Niederlanden durch Aussiedlung«. Auf diese verschleiernde Wortwahl haben sich die Mörder für die Amtsstuben und offiziellen Unterlagen geeinigt.
Unter dem Motto »Englische Flieger kennen keine Gnade« werden die Amsterdamer immer wieder ermahnt, dass abends nicht der geringste Lichtstrahl durch schwere Gardinen und papierverklebte Scheiben nach draußen dringen darf. Im Radio singt der Kabarettist Wim Ibo sein Liedchen von Verdunkelung und Surrogat-Kaffee: »Wir haben die Fenster und Türen verdunkelt, / das gehört nun einmal zu jedermanns Pflicht. / Aber hinter dem Schwarz der Wohnzimmerfenster / brennt doch noch wie früher gemütlich das Licht. / Die Stimmung im Familienkreis ist dieselbe geblieben. / Beim Lampenlicht stopft Mutter geduldig eine Socke, / Der Wasserkessel flötet sachte eine häusliche Melodie. / … und über dem Teelicht / summt der Kaffee sein kleines Lied vom Surrogat …«
Im September richtet der niederländische Gaststättenverband in Amsterdam eine »Surrogat-Versuchsküche« ein. Die besten Köche des Landes experimentieren mit dem »Ersatz«, der für immer mehr Nahrungsmittel angeboten wird und angeblich geschmacklich Spitze ist. Wo der Inhalt halbwegs hält, was die Packung verspricht, werden Zertifikate ausgegeben. Die Zeitungen bringen bewährte Rezepte aus der Versuchsküche. Restaurantkritiken finden sich keine mehr, höchstens der Hinweis, dass der Vorrat der 28 Gewürze für eine traditionelle indische Reistafel in der Hauptstadt unwiderruflich zu Ende geht.
In den Monaten August und September fahren die Besatzer weiterhin eine mehrgleisige Strategie. Auf öffentlicher Bühne eine dosierte antisemitische Politik, die Niederlands Juden immer weiter in die Isolation treibt und doch die Hoffnung am Leben hält, diese Verordnung und jenes Verbot könnten das Ende des Schreckens bedeuten. Zugleich werden hinter den Kulissen die nächsten Schritte für die »Endlösung« geplant. Im Deutschen Reich wie in den besetzten Niederlanden geht es den Machthabern seit dem Spätsommer 1941 endgültig nicht mehr um das Ob, sondern nur noch um das Wann und Wie. Ab Mitte September werden Juden in Deutschland mit einem gelben Stern gebrandmarkt, um sie zu diskriminieren und den direkten Zugriff auf die Opfer zu erleichtern. Bei einem Gespräch mit Hitler am 26. September erklärt Seyß-Inquart, dass diese Maßnahme für die Niederländer noch zu früh sei. Man müsse sie erst psychologisch darauf vorbereiten.
Am 8. August wird die erste Verordnung über »die Behandlung jüdischen Kapitalvermögens« verkündet. Alle jüdischen Niederländer müssen ab sofort ihr gesamtes mobiles Vermögen – Bargeld, Papiere, Aktien, Effekten – auf die Filiale der Amsterdamer Bank Lippmann, Rosenthal & Co. in der Sarphatistraat überweisen und dort ihr Konto einrichten. Pro Monat dürfen sie davon maximal tausend Gulden abheben.
Die angesehene jüdische Bank Lippmann, Rosenthal & Co. war 1859 gegründet worden, im Mai 1941 hatte sie an ihrem Sitz in der Nieuwe Spiegelstraat zwangsweise einen nichtjüdischen niederländischen Verwalter erhalten. Mit ihm organisierten die Besatzer ein abgekartetes Spiel, denn die Filiale in der Sarphatistraat war eine Schein-Bank, ein Täuschungsmanöver. Ihr einziger Zweck: die jüdischen Vermögen im Sinne der deutschen Besatzer zu »verwalten«. Das Reichskommissariat hatte direkten Zugriff auf alle Einlagen, die von nun an für ihre legalen Besitzer unerreichbar waren, außer den kümmerlichen tausend Gulden pro Monat und pro Familie.
In den ersten Wochen allein kamen rund sieben Millionen Gulden zusammen. Am 18. September wurde die zweite »Li-Ro«-Verordnung verabschiedet. Diesmal betrafen die gleichen Maßnahmen alle
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