Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
Höheren SS - und Polizeiführer Rauter ausbauen. Rauter, obwohl Vertreter des Reichskommissars für alle Polizeifragen in den Niederlanden, war dem obersten SS -Führer Heinrich Himmler in Berlin – und nicht dem Reichskommissar in Den Haag – direkt unterstellt. Die neue Funktion für Hans Böhmcker kam nicht zufällig. Am 8. Oktober 1941 hatte Seyß-Inquart mit seinen engsten Mitarbeitern Maßnahmen besprochen, die noch nötig waren, um alle Juden aus den Niederlanden deportieren zu können.
Unterdessen arbeiten in der Joodse Schouwburg in der Plantage Middenlaan die Angestellten der Van-Leer-Stiftung auf Hochtouren. Ob Schauspieler, Sänger oder Musiker, alle wollen beweisen, dass Juden sich im Reich der Kultur nicht verstecken müssen. Henriette Davids hat in ihren Erinnerungen den Alltag im Theater in den Herbstwochen 1941 beschrieben: »Morgens um 10 Uhr kam ich ins Theater. Es folgte eine Besprechung der laufenden Geschäfte im Büro und gegen 11 Uhr begannen die Proben … Man lebte in diesen Tagen wie im Rausch; hatte nur Sorgen um die Arbeit, andere gab es nicht.« Die erste Premiere in der Joodse Schouwburg hatte das jüdische Sinfonie-Orchester.
Am 16. November 1941 gab es keinen leeren Stuhl im Theater. Dreiundsiebzig Musiker, darunter zwei Frauen, betraten die Bühne, um ein Konzert klassischer Musik von ausschließlich jüdischen Komponisten – so der Befehl der Besatzer – zu spielen, unter anderem von Mendelssohn das Violinkonzert und die Arie »Höre Israel« aus dem Oratorium »Elias«. Dirigent war Albert van Raalte, als Leiter eines Rundfunkorchesters im Verlauf der »Arisierung« entlassen. Nach Aussagen von Kennern hatte das Orchester einen exzellenten homogenen Klang und konnte sehr wohl mit dem Concertgebouw, aus dem viele Musiker stammten, mithalten. Das Programmheft für die erste Aufführung versuchte tapfer, einen hoffnungsvollen Ton anzuschlagen: »Dass in diesen Zeiten die Aufführung von so manchen Meisterwerken eine Quelle von Trost und Kraft ist, sei unser aufrechter Wunsch.«
In diesen Zeiten: Es war Krieg, man lebte in einem besetzten Land, und die Deutschen hatten die Ausgrenzung und Diskriminierung der Juden mit vielen Maßnahmen – ohne Widerstand der Bevölkerung – vorangetrieben. Wenn man im Jüdischen Theater saß, war die Hoffnung der Juden, die auf der Bühne spielten, und die der jüdischen Zuhörer im Saal mit Händen greifbar: Die Verfolgungen müssen einmal aufhören. So lange wir hier, im Herzen von Mokum, von Amsterdam, Musik machen und genießen dürfen, haben wir uns noch nicht aufgegeben.
Am 23. November folgte die nächste Premiere in der Joodse Schouwburg: »Hand in Hand« hieß die Revue des Jüdischen Kleinkunst-Ensembles. Es traten auf die niederländische Schauspielerin und Sängerin Henriette Davids und der Filmstar und Sänger Sylvain Poons aus Amsterdam zusammen mit der Chansonnière Silvia Grohs, in Wien geboren, und der Schauspieler Otto Wallburg aus Berlin – Juden allesamt. »Hand in Hand«, die erste in einer langen Reihe von Revuen des Kleinkunst-Ensemble der Joodse Schouwburg wurde ein Riesenerfolg. Außer Montag und Freitag spielte das Ensemble täglich um 14 Uhr 30 und um 19 Uhr 30. Henriette Davids in ihren Erinnerungen: »Wenn abends ein Gongschlag den Beginn der Vorstellung ankündigte, die Musik einsetzte, … dann gab es keinen Krieg, keinen Hitler und keine Judenverfolgung. Dann spielte jeder mit voller Hingabe, froh, dass er arbeiten konnte.« Erst nach der Vorstellung, wenn man durch die dunklen Straßen nach Hause ging, fiel es einem schwer auf die Seele: »Die Zeiten sind nicht so normal, wie Du vorhin noch geglaubt hast.«
Hollandsche Schouwburg in der Plantage Middenlaan: ab August 1941 als Kulturzentrum für jüdische Musiker, Schauspieler, Sänger und jüdisches Publikum geduldet
Am 15. September, als mit der Verordnung Nr. 138 die Juden aus allen öffentlichen Räumen verbannt wurden, hatte der deutsche Reichskommissar mit einem Federstrich auch die demokratisch-föderalistische Struktur der niederländischen Städte und Gemeinden außer Kraft gesetzt. Von nun an galt hier das »Führerprinzip«, immer mehr Posten in Rathäusern und Verwaltungen wurden mit NSB -Mitgliedern besetzt. Weniger als eine Handvoll Bürgermeister und Beamter protestierte, trat zurück. Die große Mehrheit blieb im Amt, »um Schlimmeres zu verhindern«.
Ebenfalls im September lösten die Besatzer rund 7700 Vereine auf, Pfadfinder,
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