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Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)

Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)

Titel: Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Beuys
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nichtjüdische Besitzer des Beatrix-Theaters, in der Plantage Middenlaan nur wenige Minuten stadteinwärts gelegen, zäh mit den Besatzern. Sein Ziel: »Die Prominenten« sollten weiterhin mit den erfolgreichen Revuen von Willy Rosen in seinem Haus auftreten dürfen. Das geschah, allerdings mit Abstrichen, die alle in eine Richtung zielten. Die »arische« Künstlerin Dora Paulsen musste das deutsch-jüdische Ensemble verlassen. Ab Oktober durfte endgültig nicht mehr vor »gemischtem« Publikum gespielt werden, auch bei deutschen Soldaten, die gerne ins Beatrix gingen, wurde kein Auge mehr zugedrückt. Jeder musste an der Kasse seinen Ausweis – mit den zwei »J« – vorzeigen. Aus dem Beatrix-Theater wurde das Theater van de Lach: Beatrix hieß die älteste Tochter der Kronprinzessin Juliana, und sollte, wie alle lebenden Mitglieder des Königshauses, aus dem kollektiven Gedächtnis verschwinden.
    Willy Rosen, Komponist und Ideengeber, ließ sich nicht entmutigen. Auch unter diesen Auflagen folgte eine Revue der anderen – »Fröhliche Stunden« – »Er und Sie« und im Oktober »Tempo! Tempo!«. Aber keine Amsterdamer Zeitung durfte mehr über die Aufführungen im Theater van de Lach berichten. Kritiken und Werbe-Anzeigen fanden sich nur noch im Jüdischen Wochenblatt.
    Am 2. September schreibt die Direktorin des städtischen Mädchen-Lyzeums in der Reijner Vinkeleskade, Minuten nur bis zum Vondelpark oder nach Amsterdam Zuid, einigen Eltern einen Brief: »Sehr geehrte Eltern, der Regierungskommissar von Amsterdam hat Ihnen mitgeteilt, dass Ihre Tochter ab September nicht mehr zum Städtischen Mädchen-Lyzeum zugelassen wird. Mir bleibt nur, mich auf diesem Weg von Ihnen und Ihrer Tochter zu verabschieden. Ich hoffe, dass Sie das Lyzeum in guter Erinnerung behalten werden.« Wie im Lyzeum in der Vinkeleskade werden ab dem 1. Oktober an allen Amsterdamer Schulen die insgesamt 6822 jüdischen Schüler und Schülerinnen von ihren 52   959 nichtjüdischen Mitschülern getrennt und auf rein jüdische Schulen verteilt. Jüdische Lehrer dürfen nur noch an »Judenschulen« unterrichten.
    Das gesamte Schulsystem der Hauptstadt musste dafür umstrukturiert werden. Das bedeutet für alle Kinder, sich an neue Wege, neue Gebäude, neue Lehrer, neue Klassen zu gewöhnen. Die längsten Wege müssen allerdings die jüdischen Kinder gehen, für die 25 städtische »Judenschulen« eingerichtet werden, natürlich nur in den jüdischen Vierteln. Die zwölfjährige Anne Frank und ihre ältere Schwester Margot fuhren nun täglich mit ihren Rädern von der Wohnung am Merwedeplein im eleganten Amsterdam Zuid fast den ganzen Amsteldijk Richtung Innenstadt entlang zum neu gebildeten Jüdischen Lyzeum, Stadstimmertuin 1, nur Minuten vom Theater Carré entfernt. Zwei Jahre später hat Anne Frank, mit ihrer Familie inzwischen untergetaucht im Hinterhaus an der Prinsengracht, aufgeschrieben, wie ihre Zeit am jüdischen Lyzeum begann. »Mein erster Lyzeums-Tag« heißt eine ihrer vier Schulgeschichten.
    Es regnete stark, aber Anne wollte unbedingt mit dem Fahrrad fahren. Margot fuhr so schnell vorweg, dass Anne sie schon nach zwei Minuten bat, etwas langsamer zu fahren. Anne Frank kam in Klasse 1L2 und erfuhr, dass ihre Freundin Hanneli Goslar in einer anderen Klasse untergebracht war. Noch am ersten Tag erreichte sie, dass Hanneli in ihre Klasse wechseln durfte. Das neue Jüdische Lyzeum hatte sechzehn Klassen, in denen 316 Jungen und 134 Mädchen aus allen öffentlichen Gymnasien und Höheren Schulen Amsterdams zusammengezogen waren, die Mehrzahl aus dem bürgerlichen Milieu von Amsterdam Zuid.
    Am 17. Oktober schrieb eine Mutter in Bezug auf ihren Sohn in ihr Tagebuch: »Die Klasse ist glücklicherweise etwas kleiner geworden, jetzt, wo die jüdischen Kinder weg von der Schule sind. Auch wenn ich es für die Kinder traurig finde.« Vier Tage zuvor hatte der Amsterdamer Bürgermeister an Hans Böhmcker geschrieben, die Schulaktion sei »vollständig durchgeführt« und ordentlich verlaufen. Zufrieden klang das, wieder ein Problem abgehakt.
    Am 10. Oktober hatte Böhmcker von seinem Förderer Seyß-Inquart einen weiteren Titel verliehen bekommen: Er war nun auch der »allgemeine politische Vertreter« des Reichskommissars für die »Maßnahmen gegen die Judenschaft« in Amsterdam. Seyß-Inquart war Antisemit aus Überzeugung, und er wollte im Blick auf die kommenden antijüdischen Maßnahmen seine Machtposition gegenüber dem

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