Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
Stoff-Sterne kamen. Erst 1997 entdeckte ein Historiker, dass ein jüdischer Textilbetrieb in Twente, der zwangsweise unter deutsche Verwaltung gestellt war, sie hergestellt hatte.
Es war ein Schock, zuerst und vor allem für die Juden. Während der Zusammenkunft in der Zentralstelle für jüdische Auswanderung hatte David Cohen vom Jüdischen Rat zu Ferdinand aus der Fünten gesagt: »Sie werden unsere Gefühle verstehen, Herr Hauptsturmführer, es ist ein schrecklicher Tag in der Geschichte der Juden in Holland.« Natürlich wussten die Juden an der Amstel, dass die Nationalsozialisten nach Kriegsbeginn 1939 die Juden in Polen und im September 1941 die deutschen Juden zu diesem erniedrigenden Erkennungsmal gezwungen hatten. Aber doch nicht in den Niederlanden: »nicht bei uns«, an diese Hoffnung hatten sich alle geklammert.
Mai 1942: Juden über sechs Jahre müssen einen Gelben Stern tragen; ab Frühjahr 1941 wurden die »Judenviertel« durch Schilder gekennzeichnet
Die Chanson-Sängerin und Schauspielerin Silvia Grohs, Star der Nelson-Revue, einst in Berlin, nun in der Joodse Schouwburg in Amsterdam, gebürtige jüdische Wienerin, die keine Synagoge von innen kannte, will sich ihre Würde nicht nehmen lassen: »Nein, ich trage den Judenstern nicht. Ich will einfach nicht. Ich hasse sie!« Aber die Bühne ist »Öffentlichkeit« für die Besatzer, und deshalb muss jede Jüdin, jeder Jude, der in der Joodse Schouwburg auftritt, auf seinem Kostüm einen Stern tragen, ebenso die Kassiererin an der Kasse, selbst der Dirigent des Orchesters.
In ihren Erinnerungen schreibt die Schauspielerin, wie der Geschäftsführer sie anflehte: »Bloß nichts tun, was dazu führen könnte, dass wir die Schouwburg verlieren … Bitte trag deinen gelben Stern!« Silvia Grohs wird sich am Abend den gelben Stern anheften. Vorher jedoch erlebt sie etwas, das sie ihr Elend kurzfristig vergessen lässt. Ihre Kollegin Henriette Davids platzt mit Verspätung in die Durchlaufprobe vor der Aufführung und ruft aufgeregt: »Das müsst ihr gesehen haben! Alle Amsterdamer tragen Judensterne. Nein, nicht die Juden, die anderen. Ich habe zwei Hochschwangere gesehen, die den Stern auf ihren dicken Bauch geheftet hatten, und einen Pudel, der den Stern stolz an seinem Schwanz spazieren führt!« Silvia Grohs läuft mit den anderen auf die Straße: »Wohin ich auch sehe, alle tragen den Davidstern. Sie singen und tanzen auf den Straßen …«
Am Abend geht es im Jüdischen Theater weiter mit unerwarteten Reaktionen: »Das Orchester spielt die holländische Nationalhymne und dann die Hatikwa, die Hymne der Juden … die Zuschauer sind ganz aus dem Häuschen. Sie tanzen auf den Gängen, klatschen in die Hände und singen …« Am nächsten Morgen herrscht die neue Normalität: Es sind allein die Juden, die den gelben Stern tragen. Aber Silvia Grohs hat die Solidarität der Amsterdamer, auch wenn sie nur einen Tag anhielt, tief berührt: »Ich wenigstens habe ihre große Geste immer in Erinnerung behalten.«
In etlichen Tagebucheintragungen nichtjüdischer Amsterdamer taucht in diesen Tagen eine Kennzeichnung fast wortgleich auf. Sie empfinden »ohnmächtige Wut«. Eine Angestellte der Reichsversicherungsbank schreibt über den gelben Stern, dass »jeder dafür verantwortlich«, aber sich zugleich bewusst ist, »dass er dem doch ohnmächtig gegenübersteht. Ja, das ist es, ohnmächtige Wut«. Adele Halberstam, die deutsch-jüdische Emigrantin aus Berlin, die mit ihrem Mann seit Frühjahr 1939 in Amsterdam Zuid lebt, nimmt es eher sachlich. »Ich habe alle Hände voll zu tun, da ich für jeden von uns zunächst ein paar gelbe Sterne aufzunähen hatte«, schreibt sie ihrer Tochter am 1. Mai nach Chile. Vielleicht fiel der Schock bei den deutschen Emigranten ein wenig milder aus, weil jüdische Verwandte und Freunde im Deutschen Reich, von denen sie hörten und mit denen sie korrespondierten, diese Erfahrung schon hinter sich hatten.
In der Ausgabe von Het Parool, die am 10. Mai in Amsterdam im Untergrund erscheint, versuchen die Redakteure, die Gemeinsamkeit aller Niederländer gegenüber dem Feind im eigenen Land herauszustreichen. Der gelbe Stern, den zu tragen die Juden gezwungen sind, ist nicht nur »eine Beleidigung der Juden, sondern auch ein Schlag ins Gesicht des gesamten niederländischen Volkes.« Der Besatzer wolle damit die Juden noch mehr von den Nichtjuden trennen, darum müsse man »Zeichen setzen für die unerschütterliche Einheit
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