Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
zwischen allen Niederländern«. Aber mehr als auf die »kommende Befreiung« hinweisen konnte auch das größte Widerstandsblatt nicht.
»Es waren Proteste, die nichts bewirkten«, schreibt der Autor Jan de Hartog rückblickend, »sie gaben uns nur die Möglichkeit, unsere Gefühle zu äußern.« Und er erinnert sich an ein Erlebnis, das wie im Kegel eines Bühnenlichts den Amsterdamer Alltag mit dem gelben Stern beschreibt, traurig und ernüchternd. Jan de Hartog ging im Mai 1942 die Amstel entlang bis zur Magere Brug, deren weiße Holzsilhouette bis heute zu den Merkmalen der Stadt gehört. Als er die Brücke betrat, fiel ihm auf, dass die Entgegenkommenden einen Ausdruck im Gesicht hatten, den er nicht beschreiben konnte.
Auf dem Scheitelpunkt der Brücke angekommen, sah er, worum es ging. Ein Mädchen von rund fünfzehn Jahren lehnte gegen die Balustrade und weinte. Es trug einen dunklen Mantel mit einem großen, brandneuen gelben Stern, darauf das Wort »Jude«. Es war spürbar, das Mädchen trug den Stern zum ersten Mal, und er war der Grund, warum sie so verzweifelt schluchzte. Beim Anblick des Mädchens – »mehr als durch Proteste und Untergrundmanifeste« – drang Jan de Hartog ins Bewusstsein, was den jüdischen Mitbürgern angetan wurde. Er wollte zu ihr gehen, sie trösten, sie fragen, ob er etwas für sie tun könne – »doch ich tat es nicht, so wenig wie die anderen Amsterdamer, die dort, die Augen abgewendet, entlangliefen«. Am anderen Ufer ging Jan de Hartog auf, was er diffus auf den Gesichtern der Entgegenkommenden wahrgenommen hatte: eine »unaussprechliche Scham«.
Am Abend des 10. Mai heißt es in Smedings Tagebuch, die Zeitung habe bestätigt, »dass ein deutsches Kriegsgericht 79 Todesurteile ausgesprochen hat, es sollen vor allem Militärs betroffen sein. 72 von ihnen wurden hingerichtet, bei 7 ist es in lebenslänglich umgewandelt worden«. Es war eine einzelne Widerstandsgruppe, die im Untergrund arbeitete. Von den Besatzern wurden solche Nachrichten gezielt in den Zeitungen plaziert.
Für die Amsterdamer, die Augen und Ohren nicht verschlossen, war es ein Leben in zwei Welten, ein ständiges Wechselbad der Gefühle. Am 10. Mai die Todesurteile in der Zeitung, vier Tage später, zu Pfingsten, ein gewaltiger Sängerwettstreit auf dem Dam und im Hotel Krasnapolsky mit rund fünfzig Chören. Ende April die Nationalen Tennismeisterschaften in der Apollohalle, Anfang Mai die neue Raucherkarte. Jetzt wurde auch der Tabak rationiert und zugeteilt: vierzig Zigaretten pro Woche für die Männer, die Frauen mussten mit vierzig pro Monat auskommen. Immerhin erhielten die Nichtraucher Extrapunkte für Süßigkeiten.
Wer am 18. Mai in die Nähe vom Museumsplein kam, dem fielen die zusätzlichen Polizisten auf, die Absperrungen, die Militärautos. Hinter dem Rijksmuseum waren Männer aufmarschiert, ganz in Schwarz, mit Stahlhelm, Säbel und Gewehr. Die zwei Polizeibataillone der Schalkhaarder hatten ihre Kaserne verlassen, um vor einem der mächtigsten Männer des Deutschen Reiches zu paradieren: Heinrich Himmler ging mit Hitlergruß die Reihen entlang, hielt aus offenem Wagen eine kurze Ansprache, in der er die Männer »als Freunde« begrüßte und ihnen für die Zukunft eine wichtige Rolle im niederländischen Polizeiapparat versprach. Der Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei war »sehr zufrieden«: Diese Truppe war einsatzbereit, was ihm Amsterdams oberster Polizist, Sybren Tulp, stolz bestätigte. Viele Worte brauchte es nicht. Beide wussten, dass sie zu den Geheimnisträgern eines Planes zählten, der in wenigen Wochen in die Tat umgesetzt werden sollte – in Amsterdam und den anderen besetzten Ländern Europas, wo die Deutschen Herrschaft und Gewalt ausübten.
Rückblick auf Mitte April: Adolf Eichmann war zu einem kurzen Aufenthalt in die Niederlande gekommen, um mündlich die entscheidende zeitliche Vorgabe für die »Endlösung« zu machen. Er informierte Reichskommissar Seyß-Inquart und die führenden SS -Leute in Den Haag. Für das Gespräch in Amsterdam mit Ferdinand aus der Fünten von der Zentralstelle für jüdische Auswanderung ( ZjA ) reichten zehn Minuten. Eichmanns Botschaft: In den Niederlanden soll die Deportation der Juden in die Vernichtungslager in Polen im Sommer beginnen. Die Deportationsquote bis zum Jahresende legte der Koordinator aus Berlin auf 15 000 fest. Das bedeutete: Die Besatzer konnten erst einmal die rund 15 000 deutsch-jüdischen
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