Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
deportiert werden sollen, von 15 000 auf 40 000 erhöht worden ist. Frankreich kann die ursprünglich geforderte Anzahl von 100 000 deportierten Juden nicht einhalten und wird nur 40 000 liefern. Weil die europäische Vernichtungsquote für 1942 insgesamt nicht zu sehr vom angepeilten Ziel abweichen soll, müssen die niederländischen Juden einspringen. Das bedeutet: Mit den deutschen Emigranten in Amsterdam allein ist die heraufgesetzte Zahl nicht zu erreichen. Die Zentralstelle für jüdische Auswanderung fordert vom Bürgermeister eine weitere Liste: alle niederländischen Juden in Amsterdam, nach Straßen geordnet, und schnell soll es gehen.
Ende Juni zieht die ZjA in ein ehemaliges Schulgebäude am Adama van Scheltemaplein 1, in die direkte Nachbarschaft vom SD , dem Sicherheitsdienst der SS . Die zwei Dutzend Mitarbeiter sind auf rund hundert aufgestockt geworden, Deutsche in der Mehrzahl, aber auch Niederländer. Ihr direkter Vorgesetzter, SS -Hauptsturmführer Ferdinand aus der Fünten, ist einer der wichtigsten unter den deutschen Machthabern in Amsterdam geworden, da bei ihm Federführung und praktische Durchsetzung der Deportationen liegen. Die ZjA ist das Bindeglied zur Eichmann-Zentrale in Berlin. Sie gibt das Tempo der Verfolgung vor und ist Befehlsgeber an die niederländischen Glieder in der Vernichtungskette, ohne deren Mitarbeit nichts laufen würde.
26. Juni 1942 – Für die Juden ist an diesem Freitag seit Beginn der Dunkelheit der Schabbat eingetreten, wo Arbeit und Streit ruhen sollen. Gegen 22 Uhr bestellt Ferdinand aus der Fünten die beiden Vorsitzenden des Jüdischen Rates in sein Büro. Da Abraham Asscher schon zu Bett gegangen ist, hat sich Professor David Cohen allein auf den Weg zur Zentralstelle für jüdische Auswanderung gemacht. Dort eröffnet ihm der SS -Mann, dass eine gewisse Anzahl von Amsterdams Juden im Alter zwischen sechzehn und vierzig Jahren zum »polizeilichen Arbeitseinsatz« in Deutschland aufgerufen werden. Aus der Fünten ist vorsichtig und erst einmal unpräzise mit seinen Angaben: Sie kämen zuerst ins Lager Westerbork, wo es eine Gesundheitsprüfung geben würde; viele Juden könnten in der Hauptstadt bleiben. David Cohen muss nicht nachdenken – eine Katastrophe: »Das ist gegen das Völkerrecht.« Was erlaubt der Jude sich: »Das Völkerrecht bestimmen wir.«
Zuckerbrot und Peitsche, Drohung und großzügiges Entgegenkommen – der Deutsche, Jahrgang 1909, spielt auf mehreren Registern. Der Kern ist unverhandelbar, aber in einem Punkt liegt die Entscheidung beim Jüdischen Rat: Wenn er zur Zusammenarbeit bereit ist, kann er auswählen, welcher Jude zum Arbeitsdienst aufgerufen wird, und er kann bei den praktischen Formalitäten bis zur Abfahrt helfen. Außerdem erhält der Rat das Privileg, Juden vorläufig generell vom Arbeitseinsatz freizustellen, »zu sperren«. Lehnt er ab, werden die Deutschen »selektieren« und die ausgewählten Juden ausschließlich durch deutsche Hände gehen. »Sperren« gibt es dann natürlich auch nicht. Der Jüdische Rat soll sich umgehend entscheiden.
Obwohl am nächsten Tag Schabbat ist, trifft sich der gesamte Rat. Mirjam Levie ist zufällig im Büro, als ein Mitarbeiter des Rates die Zusammenkunft verlässt: »Max kam kreidebleich aus der Sitzung und berichtete, Juden, Männer und Frauen zwischen 16 und 40 Jahren, würden nach Großdeutschland zum Arbeitsdienst gebracht werden, wahrscheinlich nach Oberschlesien. Ich meinte, wir würden bestimmt in Fabriken arbeiten müssen, da diese am häufigsten bombardiert würden. Die Juden sollen ihre Familien mitnehmen dürfen.« Der Jüdische Rat hält sich bei der Entscheidung an seine bisherige Richtschnur: Er wird mit den Deutschen kooperieren – um Schlimmeres zu verhüten.
Ein winziger Handlungsspielraum öffnet sich: Hatten die Deutschen im Laufe der nächtlichen Unterredung gefordert, dass sich ab 8. Juli täglich 600 Juden auf der Zentralstelle für jüdische Auswanderung melden müssen, um alle Formalitäten für die Abreise zu erledigen, geben sie sich mit 350 zufrieden. Ein Scheinkompromiss: Denn bis zur ersten Etappe am 15. Juli müssen insgesamt 4000 Juden vom Amsterdamer Hauptbahnhof den Zug nach Westerbork bestiegen haben. Im Gegenzug fordert der Jüdische Rat, dass 35 000 Juden in Amsterdam vom »Arbeitseinsatz« freigestellt würden. Die Besatzer entscheiden, dass der Rat nur 17 500 Juden nach eigener Wahl einen Ausweis ausstellen durfte.
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