Leben mit Hochsensibilitaet
trotzig und wütend und konnte die Stimmung in der Familie tagelang verderben. Selbst wenn für jeden klar war, dass Rose schuldlos war, nahm sie die Schuld auf sich um des lieben Friedens willen. Später wurde Schuld ein immer stärkeres Thema, und ihr wurde die Verantwortung für extreme Geschehnisse zugeschoben. Als ihr Vater einen Herzinfarkt erlitt, wurde das von allen in Verbindung gebracht mit dem Freund, den Rose den Abend davor mit nach Hause gebracht hatte. Er war ein Indonesier. Seine dunkle Hautfarbe hatte die Eltern geschockt und wurde als Ursache für die Krankheit des Vaters angesehen.
Tatsächlich entwickeln hochsensible Kinder, die aus welchem Grund auch immer unter großem Druck stehen, häufig Angststörungen und Depressionen. Fachleute sehen gegenwärtig einen klaren Zusammenhang zwischen diesen beiden Störungen. Verschleppte Angst kann sich zur Depression entwickeln, Wegen dieser „Anfälligkeit“ für depressive Störungen ist es wichtig, bei Ängsten schnell und präzise zu reagieren. Ich betonte schon, dass große Veränderungen – wie eine neue Schule oder ein Umzug – bei hochsensiblen Kinder Depressionen hervorrufen können. Problemein der Familie – wie Scheidung oder die Tatsache, dass das Kind überhaupt keine Freunde hat – können ein zusätzlicher Stressfaktor sein. (Es schient übrigens, dass ein einziger Freund oder eine einzige Freundin schon eine sehr positive Wirkung hat.) Anzeichen, die darauf hinweisen, dass ein Kind depressiv ist, sind: Schlaflosigkeit oder ständiges Schlafbedürfnis, kein Hunger, keine Energie, keine Lust, etwas zu unternehmen, sehr durcheinander und aufgeregt sein. Wenn ein Kind länger als zwei Wochen lang jeden Tag solche Symptome zeigt, dann leidet es wahrscheinlich an einer Depression.
Außer dass hochsensible Kinder rebellisch sind, sich schuldig, ängstlich oder depressiv fühlen, können sie auch unter Schamgefühlen leiden. Jemand, der sich schämt, möchte am liebsten im Boden versinken. Scham kann zu einer Lebensweise werden. Das passiert vor allem, wenn die Umgebung dem heranwachsenden Kind eingeredet oder signalisiert hat, es habe versagt und tauge zu nichts. Schamgefühl ist fatal, weil es das gesamte Selbstwertgefühl schädigt (obwohl Scham sich meistens nur auf ein Geschehen oder einen Teilaspekt der Person bezieht). Leider wird das Hervorrufen von Schamgefühlen als Erziehungsmethode immer noch gerne genutzt. Wenn man das Kind dazu kriegt, sich zu schämen, dann kriegt man es wohl klein! Es ist leider so, dass ein hochsensibles Kind auf diesem Gebiet sehr empfindlich ist und, wenn das Schamgefühl in ihm hervorgerufen wird, möglicherweise explodiert oder implodiert. Das kann sofort geschehen oder erst Jahre später, mit großen Folgen. Kinder, die verwahrlosen, die nie die Bestätigung erhalten, dass sie etwas gut gemacht haben, aber auch nicht getadelt werden, wenn sie etwas schlecht gemacht haben, scheinen nach Untersuchungen die größte Gefahr zu laufen, im späteren Leben unter starken Schamgefühlen zu leiden.
Viele hochsensible Kinder entwickeln schließlich Gefühle von Heimatlosigkeit. Auffallend viele dieser Kinder, mit denen ich sprach, fühlten sich im elterlichen Haus nicht zu Hause. Als wären sie unglücklicherweise in der verkehrten Familie geboren. Häufig war der Vater hochsensibel, hatte aber zu seinen Kindernkeine Verbindung. Er hatte sich aus dem Familienleben zurückgezogen und die nicht-hochsensible Mutter bestimmte alles. In anderen Fällen zeigte der Vater ein seine Sensibilität überkompensierendes Verhalten. Dann fand er, dass die Kinder besonders hart aufgezogen werden mussten, damit sie als Erwachsene besser (als er) dieser harten Welt gewachsen seien. Die Mutter hatte sich dieser Haltung des Vaters angepasst. In beiden Varianten fühlten sich die Hochsensiblen, mit denen ich sprach, als Kind nicht akzeptiert und heimatlos.
Erinnerst du dich noch an Sophie aus Kapitel 1 ? Sie sagte mir: „Ich fühlte mich schrecklich deplatziert zu Hause. Ich äußerte mich so anders und war so viel sensibler als die anderen drei. Mein Vater ist wahrscheinlich auch hochsensibel, aber er war der Meinung, dass ich abgehärtet werden müsse, statt Verständnis zu bekommen.“ Sophie musste sehr viel mehr Verantwortung tragen als sie eigentlich konnte. Sie versuchte, so gut oder schlecht es nur ging, den Erwartungen ihrer Eltern zu entsprechen.
Ein weiteres Beispiel ist Sylvia: Auch sie machte die Erfahrung der
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