Leben mit Hochsensibilitaet
daran, was du heute weniger tun und wie du einfach nur „sein“ kannst.
3 In der Welt stehen
Ich besitze, o weh, viel zu viele Tentakeln,
die ins anders seiende Sein hineintasten
.
M. VASALIS
3.1 Einleitung
Es wird dich nicht erstaunen, wenn ich feststelle: Viele Künstler sind hochsensibel. Ich denke, unter ihnen sind die Dichter vielleicht noch am sensibelsten. In ihren Dichtungen drücken sie manchmal ganz klar ihre Sensibilität aus. Im Gedicht „Überempfindlich“ sagt Vasalis (Pseudonym der holländischen Dichterin Margaretha Droogleever Fortuyn-Leenmans):
Feuer brennen und schreckliche Musik
erklingt, der Welten Licht entsteht, vergeht,
alles bewegt sich, lebt und gibt Signale.
Und auch ein großes weißes Etwas bewegt sich langsam hin
und her,
wie ein riesiges Laken an einer endlosen Wäscheleine,
wenn es kaum weht. Atmen ist klein
damit verglichen.
Es gibt Bewegungen die ein Äon lang hinschwingen
und ein Äon zurück,
und andere sind so schnell. Fast rückwärts.
Es ist zu sehen, zu fühlen, zu hören.
Ich weiß, dass es da ist, wie ich weiß, dass es in meinem Blut
wimmelt in dunklen Gängen. Bedecke es mit Haut.
Bedecke das All mit Stille, mit Gefühllosigkeit, mit Zeit. 16
Wenn ich dieses Gedicht lese, dann fühle ich, dass Vasalis wie ein offener Nerv fast zuviel an Eindrücken bekommt und, das begreifend, sich abschließt mit gebieterischen Worten: „Bedecke es mit Haut. Bedecke das All mit Stille …“
Für hochsensible Menschen ist „die Welt“ ein Ort des Staunens, der Schönheit und gleichzeitig der Qual. Die Beziehung, die ein Hochsensibler zur ihn umgebenden Welt hat, kann sowohl Anlass zu großer Freude als auch zu großem Leid sein. Diese Gegensätze von Verlockung und Angst sind zwei Seiten derselben Medaille. Die Welt mit all ihren fühlbaren Tentakeln auf den unterschiedlichsten Niveaus verursacht Aufregung und Neugierde im Herzen des Hochsensiblen – und lässt ihn manchmal ebenso heftig zurückschrecken. Es gibt so viel zu sehen, zu fühlen, zu hören, dass man zuweilen alles zudecken möchte – „… mit Gefühllosigkeit, mit Zeit“.
In diesem Kapitel, das ich „In der Welt stehen“ nenne, möchte ich das Verhältnis des Hochsensiblen zu seiner Umgebung näher besprechen. Ohne diese Beziehung unnötig zu problematisieren, scheint es mir sinnvoll, vor allem zwei Bereiche zu betrachten, die Hochsensible manchmal schwierig finden – Bereiche, in denen sie dem Druck anderer erliegen können und so in Schwierigkeiten geraten, bei sich zu bleiben. Diese beiden Bereiche sind nicht etwa die Kunst oder die Poesie; es sind die Bereiche des Kontakts zu anderen Menschen und des Berufslebens.
3.2 Kontakt zu anderen Menschen
3.2.1 Bedürfnis nach echtem Kontakt
Jeder Mensch braucht andere Menschen. Wir sind „soziale Tiere“, um es einmal so auszudrücken. Ohne jeglichen Kontakt mit anderen Lebewesen verkümmert ein Mensch. Wir brauchen Wärme, Begegnung, Liebe. Das gilt nicht nur für Hochsensible, sondern für alle Menschen. Doch es scheint, dass hochsensible Menschen oft höhere Ansprüche an den Kontakt stellen, sich schneller unsicher fühlen und tiefgreifender mit dem Kontakt beschäftigt sind.
Um den letzten Punkt aufzugreifen: Auch wenn sie allein sind, sind Hochsensible gedanklich viel beschäftigt mit Menschen, die ihnen wichtig sind oder die sie vielleicht kürzlich getroffen haben. Kontakt scheint für sie nicht auf das tatsächliche Zusammensein begrenzt zu sein; Kontakt reicht weiter. Dies beruht auf ihrer Sensibilität für Details. Diese angeborene Eigenschaft bewirkt, dass Hochsensible Zwischenmenschliches auf tiefe und intensive Art wahrnehmen und verarbeiten. Das gedankliche „Wiederkäuen“ des Kontakts ist eine Phase intensiver Verarbeitung. Vor, nach und natürlich während des Treffens geschieht sehr viel in Hochsensiblen. Mehr als der Normalsensible sind sie sich der kleinen, manchmal nahezu unbemerkbaren Zeichen und Signale bewusst, die in der Kommunikation ausgetauscht werden. Ein Blick, ein Wort, eine Berührung bedeuten viel für sie. Sie sind sich dessen stark bewusst, was sie selbst tun und ausstrahlen – und ebenso sehr auch dessen, was der andere sichtbar und unsichtbar kommuniziert. Im Hirn des Hochsensiblen wird sehr viel interpretiert und in seinem Herzen sehr viel gefühlt.
Kontakt ist mehr als das gesprochene Wort. Der Körper lässt viel von dem erkennen, was sich im Geist abspielt. Körperhaltungen verraten den emotionalen Zustand
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