Leben ohne Krankheit: »Einer der besten Mediziner Amerikas lehrt ein radikal neues Denken über unsere Gesundheit.« Al Gore (German Edition)
Titel »Notes of a Biology Watcher« (»Notizen eines Biologiebeobachters«) erschienen, sind jeweils ein kurzer, persönlich gehaltener Überblick zu einem Forschungs- oder sonstigen aktuellen Thema in der Biologie. Nicht gerade Lesefutter für die Massen, würde man denken. Aber durch die Klarheit und Klugheit, mit der Thomas schrieb, erreichte er ein großes Publikum, besonders, weil er sich so ungezwungen, spontan und subtil provokant ausdrücken konnte. Er hat über 200 Fachaufsätze über immunologische und pathologische Themen hinterlassen, aber der Nachwelt im Gedächtnis geblieben ist er durch seine populärwissenschaftlichen Schriften.
Mitte der 1980er-Jahre, während meines Studiums in Princeton, hatte ich die Ehre, Lewis Thomas persönlich zu begegnen. Ich war im dritten Studienjahr, als der Fachbereich Molekularbiologie das neue Lewis-Thomas-Laborgebäude einweihte, und wir waren der erste Jahrgang, der es benutzte. Deshalb kamen wir in den Genuss mehrerer abendlicher Gesprächsrunden mit Lewis, die von der Universität veranstaltet wurden. Thomas war damals schon ziemlich alt und gebrechlich, und seine Karriere lag weitgehend hinter ihm, während ich erst am Anfang meines Studiums der Molekularbiologie und Medizin stand. Ich erinnere mich aber noch an seinen einfachen Satz, den ich mir notierte und bis heute immer in meiner Nähe habe: »Das ist die einzigartige Chance, etwas anderes als Medizin zu lernen. Medizin ist die Kunst der Beobachtung und Interpretation, und diese Fähigkeiten lernt man nicht aus Büchern.«
Das Buch, das ich wegen seines unauslöschlichen Eindrucks auf mein Denken seit dieser Anfangszeit, in der ich begann, mein Handwerk zu lernen, immer bei mir habe, ist The Youngest Science: Notes of a Medicine-Watcher (»Die jüngste Wissenschaft: Notizen eines Medizinbeobachters«) von 1983. Thomas beschreibt darin, wie einer der ersten Patienten seines Vaters über Blut im Urin klagte. Sein Vater untersuchte den Patienten und dessen Urin, konnte aber zu keiner Diagnose gelangen. Um sich Zeit zum Nachschlagen und Überdenken des Falls zu verschaffen, verschrieb er ihm ein Fläschchen von Blaud’s Eisenpillen, die damals, um 1910, gegen Anämie sehr beliebt waren. Als der Patient zum nächsten Termin erschien, war er begeistert – alles in Ordnung, kein Blut mehr im Urin! Sehr wahrscheinlich war ihm ein »stiller« Nierenstein abgegangen oder etwas Ähnliches. Thomas’ Vater aber hatte sich einen Ruf als unfehlbarer Arzt geschaffen. Diese Geschichte zeigt vor allem, dass Patienten oft von Krankheiten genesen, ohne dass genau festgestellt werden kann, woran sie eigentlich gelitten haben. Der Körper heilt sich von selbst, auf seine eigene undurchschaubare Weise, und es ist nicht der Arzt, der die Heilung bewirkt. Thomas hat das sehr schön beschrieben:
Patienten, manche zumindest, können selbst von schweren Erkrankungen genesen; es gibt nur wenige Krankheiten, die, wie etwa die Tollwut, immer tödlich ausgehen. Die meisten sind für den einen Patienten tödlich, lassen aber den nächsten entkommen, und wenn Sie Glück haben und außerdem einen zuverlässigen, fachkundigen Arzt, dann sind Sie natürlich überzeugt, dass er Sie gerettet hat. Mein Vater schärfte mir ein, während ich ihn auf dem Beifahrersitz bei seinen Hausbesuchen begleitete, ja nicht darauf hereinzufallen, falls ich selbst Arzt würde.
Trotz seiner Skepsis hatte er allerdings stets seinen Rezeptblock bei sich und verschrieb all seinen Patienten gerne und viel. Das waren damals noch phantastische Mixturen aus fünf oder sechs Heilpflanzen, die der Apotheker noch einzeln abwog und dann sorgfältig mischte, indem er sie im Mörser pulverisierte, in Alkohol löste und in ein Fläschchen abfüllte. Darauf kam dann ein handgeschriebenes Etikett mit dem Namen des Patienten, dem Datum und der Dosierung. Die Inhaltsstoffe blieben ein Geheimnis, und das sollten sie auch sein. Die Rezepte waren natürlich stets auf Lateinisch abgefasst, um das Mysterium noch zu steigern. Der Sinn dieser Therapie war hauptsächlich Vertrauensbildung. … Es handelte sich um Placebos, aber sie waren schon so lange, seit Jahrtausenden, die Hauptwaffe und einzige Technologie der Medizin, dass sie die ehrfurchtgebietende Macht eines religiösen Rituals ausstrahlten. Mein Vater traute keinem dieser Mittel allzu viel zu, aber er verschrieb sie täglich. Seine Klienten erwarteten das von ihm; und ein Arzt, der sich dem Brauch verweigerte, hätte
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