Leben statt kleben
sich, wenn wir nicht mehr immer im Recht sein müssen. In Kleinigkeiten über der Sache stehen, sich bei inneren Prioritäten durchsetzen. Je weniger Energie in Machtkämpfe, ständige Bewertungen oder inneren Widerstand entrinnt, desto mehr bleibt für nachhaltiges Säen und Ernten.
Nicht-Urteilen und bedingungslose Liebe sind die am stärksten transformierenden Kräfte, unsere größten Schwächen auch die größten Stärken: Eine alte Frau im alten China musste täglich Wasser holen gehen und balancierte auf ihrem beschwerlichen Weg eine Stange mit zwei Tongefäßen über den Schultern. Eines der Gefäße hatte einen Sprung und verlor unterwegs die Hälfte seiner kostbaren Fracht. Nach zwei Jahren ertrug es sein Versagen nicht mehr. „Es tut mir so unendlich leid, dass ich den ganzen Heimweg über Wasser ausrinnen lasse, während der andere Behälter perfekt ist. Ich leiste nur halb so viel, das macht mich ganz fertig.“ Die Alte lächelte. „Ist dir schon mal aufgefallen, dass auf deiner Seite des Weges Blumen wachsen? Ich wusste um deinen kleinen Fehler, deshalb habe ich Samen ausgestreut. Du bewässerst sie. Dir habe ich es zu verdanken, dass ich in den letzten Jahren immer Blumen nach Hause brachte. Wenn du nicht genauso wärst wie du bist, gäbe es keine duftend bezaubernde Schönheit in meinem Heim.“
Loslassen ohne Reue
Nichts bleibt wie es ist. Auch wenn wir uns dagegen sträuben und dem Früher-war-alles-besser-Club beitreten. „Die Jugend von heute liebt den Luxus, hat schlechte Manieren, schwatzt wo sie arbeiten sollte und verachtet die Autorität. Sie hat keinen Respekt mehr vor älteren Leuten, widerspricht ihren Eltern und tyrannisiert ihre Lehrer!” Sokrates hat das bereits im Jahr 400 v. Chr. festgestellt und seine Theorie findet bis heute Anhänger. Während wir noch grummeln, erfindet diese unmögliche nächste Generation das nächste unverständliche Teufelszeug: die Dampfmaschine, Online-Banking... Man kommt kaum noch mit, die Welt da draußen scheint sich so circa alle zehn Minuten rundum zu erneuern. „Ich habe es privat lieber etwas gemächlicher“, sagen Sie jetzt vielleicht. „Ich will gar nicht zuviel Innovation in meinem Leben.“ Dann ist ja alles gut.
Durch Nicht-Veränderung im Zuhause schaffen wir uns die Illusion von Stabilität. Auf Dauer macht der Stillstand aber kribbelig, da es bei den meisten von uns die eine oder andere Baustelle gibt, wo wir ein bisschen positive Veränderung begrüßen würden. Entweder es hakt beruflich oder das Privatleben gestaltet sich nicht ganz so, wie wir uns das vorstellen. Wir könnten ein bisschen mehr Geld gebrauchen, mehr Zeit oder ein paar neue Freunde. Uns Veränderungen entgegenzustemmen kostet viel Kraft und kann den ewigen Wechsel doch nicht aufhalten. Durch Clearing tasten wir uns an den universalen Prozess des „Weg mit dem Alten, herein mit dem Neuen“ heran. In selbstgewähltem Tempo gewöhnen wir uns an die natürliche Reaktion auf jede Veränderung, die Trauer. Sobald wir Gegenstände durchsortieren, stürmen Erinnerungen auf uns ein. „Das habe ich zu diesem Anlass gekauft. Das war ein Geschenk von jemandem, der inzwischen nicht mehr an meinem Leben teilnimmt.“ Indem wir eine Kaffeetasse weiterziehen lassen, üben wir das Umgehen mit Verlustangst und Abschiednehmen. Früher oder später wird diese Lebenskunst eingefordert. Geliebte Menschen, Tiere und Lebensumstände verlassen uns. Wenn wir uns klar machen, was wir beim Abschied von einem Gegenstand wirklich betrauern, transformieren wir Sortieren in eine heilend-ganzheitliche Therapiesitzung. Unser Clutter wird zum Psychiater und hilft uns anschaulich und ohne Worte bei einer lebensbejahenden Erneuerung des Selbst. „Steckt da noch Leben für mich drin? Bringt mich dieser Gegenstand mir selbst näher? Beseelt er mich?“
Wir wünschen uns Kontrolle, Ewigkeit, Garantien, Sicherheit. Wir bekommen das Gegenteil. Beim Clearing stellen wir uns dem Prozess immerwährender Veränderung, mit offenen Augen und blutendem Herzen. Sich für immer von Babysachen, Kinderzeichnungen oder den Hinterlassenschaften eines Verstorbenen zu trennen, ist drastische Spiegelung unserer Vergänglichkeit. So schwierig, dass sie vielleicht im Keller zwischengeparkt werden müssen. Als Erinnerung daran, wie leicht es ist, den Moment zu versäumen. Dabei haben wir doch nur das Jetztgerade! Aber Vergänglichkeit ist auch Weiterwachsen. Veränderung bedeutet Entwicklung. Nichts geht je verloren,
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