Leben statt kleben
manchmal ein bisschen schwindlig wird. Dass wir uns festhalten müssen. An selbstgebauten Entschleunigern aus Papier, Glas, Plastik, Baumwolle, Ton, Stahl, Kautschuk, Porzellan, Holz, Kristall, Elasthan, Polyethylen...!
Alles Unbenutzte ist ungelebtes Leben
Wer aus Energiemangel zum Stillstand gekommen ist, kann nicht mehr mitreißend sein. Sogar hinreißend wird schon strapaziös. Glücklicherweise gibt es eine besonders vergnügliche und unanstrengende Clearing-Methode, Verdruss durch Entzücken zu ersetzen. Die sogenannten „guten“ Sachen im Alltag zum Leben erwecken! Die für „besondere Anlässe” reservierten Dinge von ihrem Dasein des Verstaubens und Vermottens erlösen. Viele von uns haben eine Ehrfurcht vor Geschirr oder Sonntagskleidung geerbt. Das Kristall wird nicht angerührt, wir trinken aus Senfgläsern. Kerzen hoffen vergeblich darauf, angezündet zu werden. – Schluss mit dem Schonen, entstauben wir das Schöne und verzaubern jeden Tag in den Festtag, der er ist! Den Einkaufszettel mit dem prachtvollsten Lieblingsstift schreiben. Revolution, Leben statt Kleben! Natürlich ist umgehend unsere treueste Begleiterin zur Stelle, um uns warnend ins Ohr zu wispern: „Ich will Dir ja nur helfen. Lass das kostbare Ding lieber weiterverstauben, dann kann nichts passieren. Sicher ist sicher. Denk an die Gefahren: Abnutzung! Risse! Sprünge! Flecken! Beim Benutzen könnte das Unaussprechliche passieren, die Katastrophe eintreten – das Ding eventuell kaputtgehen. Zerspringen, in tausend Stücke zerschellen. Weg, aus. Auf ewig.“ – Wir fassen allen Mut zusammen und entgegnen trotzig: „Ist doch kein Drama. Nur ein Glas, ein Stück Stoff. Es gibt Besseres, Schöneres!“ In einer idealen Welt sind wir solch tapfere Helden, schlagen der Angst den Kopf ab, schwingen uns auf‘s Pferd und reiten mit unserem besten Geschirr in den Sonnenaufgang hinein. Am Montag sind wir dann aber doch wieder brav (sicher ist...), versagen uns die Fülle und spannen freiwillig einen Schonbezug darüber. Für die nächste Generation? Woher wissen wir, was die nächste Generation will? Wahrscheinlich etwas ganz anderes als unsere alten Gläser oder Tischdecken. Kein einmal die Woche, kein Später. Ein Leben ohne Schonbezüge.
Alles Unbenutzte ist ungelebtes Leben. Befreien wir uns und unsere Dinge vom sinnlosen Dasein des Wartens. Leben wir schon heute, am besten jetzt gleich. Wenn wir unsere Sachen ausharren lassen, rutschen wir selbst auch schnell in diese Sich-Tot-Stellen Haltung hinein. – Warten auf einen Partner. Auf eine glücklichere Phase in der Beziehung. Darauf, dass es wieder besser wird. Dass der Stress nachlässt. Auf ein Kind. Auf ein zweites Kind. Darauf, dass die Kinder dann mal aus dem Gröbsten raus sind. Dass die Tage wieder länger werden. Dass sich in der Arbeit etwas tut. Auf einen neuen Job. Den Umzug. Den Ruhestand. Auf Enkelkinder. Auf Mittagspause, Feierabend, Wochenende, den Urlaub, den nächsten Sonnentag. Den Frühling, den Sommer, den Schnee, den Abend, den Morgen. Mehr Zeit, Ruhe, Energie. Die E-Mail, den Anruf. Auf die Gebrauchsanweisung. Das Patentrezept.
Clearing entlarvt Gewohnheitswarten als lebensverneinendes Verpassen des Augenblicks. Mehr als das Jetzt werden wir nie haben. Blühen wir im Moment. Verschicken wir Blumensträuße an die Lebenden, statt welkender Kränze, bevor es zum Freude machen zu spät ist. Wie in folgender Geschichte: ‚Ein Freund von mir öffnete die Unterwäscheschublade seiner Frau und holte ein in Seide eingeschlagenes Päckchen hervor. „Das“ sagte er, „ist kein gewöhnliches Päckchen. Ich kaufte es ihr, als wir das erste Mal in New York waren, vor acht oder neun Jahren. Sie hat es nie getragen. Sie hat es immer aufgehoben für einen besonderen Anlass. Und jetzt ist er wohl gekommen.“ Er trat ans Bett und legte die Schachtel zu den Kleidungsstücken, die er zum Beerdigungsinstitut mitnehmen wollte. Seine Frau war gerade gestorben. Er drehte sich zu mir um und sagte: „Hebe nie etwas auf für einen besonderen Anlass. Jeder Tag ist ein besonderer Anlass.“ Diese Worte haben mein Leben verändert. Jetzt lese ich mehr und putze weniger. Ich sitze einfach da manchmal, ohne mir ständig Sorgen über alles zu machen. Ich verbringe mehr Zeit mit meiner Familie und guten Freunden. Ich habe verstanden, dass das Leben eine Erfahrung sein sollte, der man sich freudig stellt, anstatt sich mühsam durch die Tage zu kämpfen. Die Worte „irgendwann mal“ und
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