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Leben, um davon zu erzählen

Leben, um davon zu erzählen

Titel: Leben, um davon zu erzählen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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und wir kehrten in perfekter Ordnung in den Saal zurück, um weiterzuschlafen. Es war der einzige Zwischenfall in unseren Internatsjahren, an den ich mich erinnern kann.
    Mario Convers, ein Neuzugang in der Abschlussklasse, hielt uns damals mit dem Plan in Spannung, eine Schülerzeitung zu machen, die nicht so konventionell war wie die der anderen Schulen. Mit mir nahm er als einem der Ersten Kontakt auf, und ich fand Convers so überzeugend, dass ich mich geschmeichelt darauf einließ, sein Chefredakteur zu werden, obwohl ich keine klare Vorstellung von meinen Aufgaben hatte. Die letzten Vorbereitungen für die Zeitung fielen mit der Festnahme von Präsident López Pumarejo zusammen. Der Präsident weilte gerade zu einem offiziellen Besuch im Süden des Landes, als eine Gruppe hoher Offiziere zuschlug. Die Geschichte, von López Pumarejo selbst erzählt, war nicht zu verachten. Den Untersuchungsrichtern lieferte er, vielleicht unabsichtlich, einen vorzüglichen Bericht, dem zufolge er bis zu seiner Befreiung nichts von dem Ereignis mitbekommen hatte. Er hielt sich dabei so eng an die Realitäten des wirklichen Lebens, dass der Putsch von Pasto als eine weitere lächerliche Episode in die Geschichte des Landes einging.
    In seiner Eigenschaft als designierter Stellvertreter versetzte Alberto Lleras Camargo das Land über Radio Nacional mit seiner Stimme und seiner perfekten Vortragsweise in Hypnose, viele Stunden lang, bis Präsident López Pumarejo befreit und die Ordnung wieder hergestellt war. Doch der verschärfte Ausnahmezustand und die Pressezensur blieben bestehen.
    Die Prognosen waren ungewiss. Die Konservativen hatten das Land seit der Unabhängigkeit von Spanien im Jahr 1819 über eine lange Zeit regiert und zeigten keinerlei Bereitschaft zu einer Liberalisierung. Die Liberalen wiederum verfügten über eine Elite junger Intellektueller, die von den Lockspeisen der Macht angezogen wurden. Jorge Eliécer Gaitán stach als besonders radikal und geschickt unter diesen Politikern hervor. Er war einer der Helden meiner Kindheit wegen seiner Aktionen gegen die Repression in der Bananenregion gewesen, von der ich, noch ohne etwas davon zu begreifen, immer wieder gehört hatte. Mein Großvater bewunderte ihn, aber ich glaube, dass ihm die Übereinstimmungen mit den Kommunisten Sorgen bereiteten. Ich hatte hinter Gaitán gestanden, als er in Zipaquirá von einem Balkon an der Plaza eine donnernde Rede hielt, und mir war sein melonenförmiger Schädel aufgefallen, das harte, glatte Haar und die Haut eines richtigen Indios sowie seine durchdringende Stimme mit dem Tonfall eines Straßenjungen von Bogotá, den er vielleicht aus politischer Opportunität herausstrich. In seiner Rede sprach er nicht von Liberalen und Konservativen oder von Ausbeutern und Ausgebeuteten wie sonst alle Welt, sondern von den Armen und den Oligarchien, ein Begriff, den ich noch nie gehört hatte, der mir nun aber mit jedem Satz eingehämmert wurde, so dass ich mich beeilte, ihn im Wörterbuch nachzuschlagen.
    Gaitán war ein glänzender Anwalt und in Rom ein hervorragender Schüler des großen italienischen Strafrechtlers Enrico Ferri gewesen. Dort hatte er auch die Redekunst von Mussolini studieren können, und an dessen theatralischen Stil auf der Tribüne erinnerten Gaitáns Auftritte ein wenig. Sein Parteigenosse und Rivale Gabriel Turbay war ein gebildeter und eleganter Mediziner mit einer fein gefassten Goldbrille, die ihm etwas von einem Filmschauspieler gab. Auf einem Kongress der Kommunisten hatte Turbay kurz zuvor unvorhergesehen eine Rede gehalten, die viele überraschte und einige seiner bürgerlichen Mitstreiter beunruhigte, doch er selbst meinte nicht, damit in Wort oder Tat gegen seine liberale Gesinnung und seine aristokratische Haltung verstoßen zu haben. Seine guten Beziehungen zur russischen Diplomatie gingen auf das Jahr 1936 zurück, als Turbay kolumbianischer Botschafter in Rom gewesen war und in dieser Eigenschaft Beziehungen zur Sowjetunion aufgenommen hatte. Sieben Jahre später, als Gesandter in Washington, formalisierte er diese Beziehungen.
    Nun stand er auf sehr gutem Fuße mit der sowjetischen Botschaft in Bogotá und hatte auch einige Freunde unter den Führern der kommunistischen Partei Kolumbiens, die mit den Liberalen ein Wahlbündnis hätten eingehen können; davon wurde in jenen Tagen viel geredet, doch es kam nie dazu. Als er noch Botschafter in Washington gewesen war, gab es in Kolumbien das hartnäckige

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