Leben, um davon zu erzählen
in den Pausen unter der Hand zirkulierten, und einige davon schienen ihm würdig, in einer Literaturbeilage veröffentlicht zu werden. Kaum hatte ich versucht, mich über meine gnadenlose Schüchternheit hinwegzusetzen, sagte er bereits das, was zweifellos seine eigentliche Absicht gewesen war. Er riet mir, die Dichterlocken abzuschneiden, die für einen ernsthaften Mann unschicklich seien, ich solle den Schnauzbart stutzen und nicht mehr die mit Vögeln und Blumen bedruckten Hemden tragen, die nach Karneval aussähen. So etwas hatte ich am allerwenigsten erwartet, ich behielt aber zum Glück die Nerven und gab keine unverschämte Antwort. Er merkte, wie ich mich zusammennahm, und erklärte mir nun in gesalbtem Ton, dass er befürchte, diese Mode könne sich wegen meiner Fama als Dichter unter den jüngeren Mitschülern durchsetzen. Ich verließ das Rektorat, beeindruckt von der Anerkennung meines eigenen Stils und meines poetischen Talents seitens einer so hohen Instanz, und war bereit, für diesen feierlichen Akt, dem Rektor gefällig zu sein und mein Aussehen zu verändern. Als die Familie dann darum bat, von postumen Ehrungen Abstand zu nehmen, war mir, als sei ich persönlich gescheitert.
Das Ende war gruselig. Irgendjemand hatte entdeckt, dass das Glas des in der Bibliothek aufgebahrten Sarges beschlagen wirkte. Alvaro Ruiz Torres öffnete den Sarg auf Bitte der Familie und stellte fest, dass er tatsächlich innen feucht war. Als er tastend nach der Ursache des Dunstes in dem hermetisch geschlossenen Sarg suchte, drückte er mit den Fingerspitzen leicht auf die Brust des Toten, und die Leiche gab einen herzzerreißenden Klagelaut von sich. Die Familie war wie von Sinnen und glaubte, der Sohn sei noch am Leben, bis der Arzt erklärte, die Lungen hätten durch den Atemstillstand Luft zurückgehalten, die nun durch den Druck auf die Brust entwichen sei. Trotz dieser einfachen Diagnose, oder vielleicht gerade deshalb, blieb bei einigen die Angst, man habe den Jungen lebendig begraben. In dieser Stimmung fuhr ich in die Ferien des vierten Jahres, mit dem festen Vorsatz, meine Eltern dahin gehend zu erweichen, dass ich nicht mehr zur Schule müsste.
In Sucre ging ich bei einem unsichtbaren Nieselregen an Land. Die Hafenmauer erschien mir anders als in meiner Erinnerung. Die Plaza wirkte Meiner und nackter, und die Kirche und die kleine Promenade unter den gestutzten Mandelbäumen lagen im Licht der Ungeborgenheit. Die bunten Girlanden in den Straßen kündigten das Weihnachtsfest an, aber ich war nicht gerührt darüber wie sonst, erkannte auch keinen einzigen der wenigen Männer, die mit Regenschirmen am Kai warteten, bis jemand, als ich vorbeiging, mit unverwechselbarem Akzent und Tonfall sagte:
»Wie steht's?«
Es war mein Vater, etwas abgezehrt durch den Gewichtsverlust. Er hatte nicht den weißen Drillichanzug an, an dem man ihn seit seinen jungen Jahren schon von fern erkennen konnte, sondern trug eine einfache Hose, ein kurzärmeliges Tropenhemd und einen merkwürdigen Vorarbeiterhut. Mein Bruder Gustavo, der dritte Sohn, begleitete hn, und den hatte ich wegen des Wachstumsschubs im neunten Lebensjahr nicht erkannt.
Zum Glück hatte sich die Familie den Schneid der Armen bewahrt, und das frühe Abendessen schien eigens zubereitet, um mir kundzutun, dies sei mein Zuhause und es gebe kein anderes. Die gute Nachricht am Tisch war, dass meine Schwester Ligia in der Lotterie gewonnen hatte. Die Geschichte -von ihr selbst erzählt - beginnt damit, dass unsere Mutter träumte, ihr Vater habe in die Luft geschossen, um einen Dieb, den er im alten Haus von Aracataca beim Stehlen ertappt hatte, zu verjagen. Der Familiensitte entsprechend erzählte meine Mutter den Traum beim Frühstück und schlug vor, ein Lotterielos zu kaufen, das auf sieben endete, weil diese Zahl genau wie der Revolver des Großvaters geformt sei. Sie hatten kein Glück mit dem Los, das meine Mutter auf Kredit gekauft hatte, um es später mit dem Preisgeld zu bezahlen. Ligia aber, die damals elf Jahre alt war, bat Papa um dreißig Centavos, um die Schulden für die Niete zu bezahlen, und noch einmal um dreißig Centavos, um es in der Folgewoche erneut mit derselben seltsamen Nummer, 0207, zu versuchen.
Unser Bruder Luis Enrique hatte das Los verschwinden lassen, um Ligia einen Schreck einzujagen, doch sein Schreck war größer, als die Schwester am Montag drauf laut schreiend ins Haus kam, sie habe in der Lotterie gewonnen. Denn er hatte im
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